23.06.2022

Getreide aus der Ukraine in der Sackgasse

Krieg in der Ukraine. Tonnen von Getreide stecken im ukrainischen Schwarzmeerhafen Odessa fest. Die Kriegsparteien Ukraine und Russland bezichtigen sich gegenseitig der Blockade. Ausweichrouten gäbe es, jede mit eigenen Schwierigkeiten. Ukraine will Umschlagkapazitäten ausbauen.

Getreide Ukraine

Ausweichrouten über EU-Staaten

Derzeit dienen Ausweichrouten über EU-Staaten wie Rumänien zum Export zumindest eines Teils der normalen ukrainischen Getreideexporte. Diese sind einem Bericht der „Tagesschau“ zufolge allerdings bei weitem nicht so leistungsfähig wie die bisherige Hauptexportroute über den Hafen der ukrainischen Schwarzmeer-Metropole Odessa. Die Ukraine hat deren Zufahrt vermint. Das Land beklage, dass durch die russische Kriegsmarine ihre Häfen im Schwarzen Meer blockiert seien. Über die von Russland blockierten Schwarzmeer-Häfen kann die Ukraine derzeit deswegen kein Getreide exportieren.

Lawrow: Ohne Seeminen Durchfahrt möglich

Die Sendung zitiert Russlands Außenminister Lawrow dahingehend, Exporte seien möglich, wenn die Ukraine ihrerseits die Seeminen entferne, was diese aber ablehne. Die Ukraine weigere sich, ihre Häfen zu entminen oder anderweitig Durchfahrten von Frachtschiffen zu gewährleisten. Wenn die ukrainische Seite bereit sei, eine Durchfahrt an den Minen vorbei zu sichern, dann könne diese Frage gelöst werden. Der Minister habe zudem erklärt, Russland sei bereit, seinerseits zu „garantieren“, dass es eine Entfernung von Minen nicht für einen Angriff auf die Ukraine nutzen würde und die Sicherheit von Schiffen, möglicherweise in Zusammenarbeit mit der Türkei, zu „gewährleisten, die die ukrainischen Häfen verlassen“. Die Ukraine habe erklärt, man sei aus Angst vor russischen Angriffen nicht dazu bereit, den besonders wichtigen Hafen von Odessa von Minen zu befreien.

Ungarn will Transporte übernehmen

Zeitdruck bei der Suche nach einer Lösung gibt es vor allem, weil in der Ukraine eine weitere Ernte bevorsteht und die Lagerstätten des Landes wegen der Schwarzmeer-Blockade noch gut gefüllt mit Getreide der vorherigen Ernte sind. In ukrainischen Häfen lagern etwa 20 Millionen Tonnen Getreide, so die „Tagesschau“ unter Berufung auf nicht näher benannte Schätzungen.

Große Mengen dieses Getreides könnten auch über Ungarn ausgeführt werden. Das zumindest schlug der ungarische Außenminister Peter Szijjarto vor. Sein Land habe angeboten, dass Getreideexporte aus der Ukraine, die entweder nach Nordafrika oder in den Nahen Osten gehen, über Ungarn abgewickelt werden können. Szijjarto auf „euronews“: „Und wir können auch freie Transport- und Logistikkapazitäten zur Verfügung stellen.“

Damit ein Transportkorridor funktionieren könne, müsse die Grenze zwischen den beiden Ländern sicher sein. Szijjarto sagte, der „Teufelskreis, der die Welt bedroht“, werde durch die hohe Inflation und den Rückgang der Exporte von Agrarprodukten aus der Ukraine und Russland angeheizt, was zu steigenden Preisen führe. Der Mangel an alternativen Ressourcen und die Tatsache, dass Russland, die Ukraine und Weißrussland wichtige Akteure auf dem Weltmarkt für Kunstdünger seien, verschärften das Problem.

Vorstellungen Ungarns, auf welchen Routen dies erfolgen könnte, wurden nicht mitgeteilt. Unterschiedliche Spurbreiten sind nur eine der Probleme, die den Bahntransport zwischen Ukraine und Ungarn erschweren, so Beobachter. Schiffe für Beladung in Ungarn und Weitertransport auf der Donau seien demnach nicht verfügbar aufgrund der bestehenden Kapazitätsgrenzen. Vor den Häfen an der Donaumündung stauen sich mittlerweile die Schiffe zu hunderten, die sonst ukrainische Schwarzmeer-Häfen anlaufen würden.

Stau vor Donauhafen
Schiffsstau (grüne Punkte) vor der Donau-Mündung

Transit über Ungarn vervielfacht

Ohnedies hat sich im Vergleich zum April des Vorjahres der von der Rail Cargo Group (RCH) in Ungarn organisierte Transitverkehr von ukrainischem Getreide auf der Schiene in Ungarn vervielfacht. Wie das Unternehmen mitteilt, ist das weitere Wachstum der Transporte durch die Umschlagskapazität und die Anzahl der verfügbaren Güterwagen begrenzt. Im ersten Quartal von 2022 sind 41.000 Tonnen Ernte aus der Ukraine in der Organisation von Rail Cargo Logistics Hungaria, der ungarischen Teilgesellschaft der Rail Cargo Group angekommen. Bis Ende Juni sei die Versendung von weiteren 85.000 Tonnen prognostiziert. Der Zielort des Getreides sei in den meisten Fällen Italien, kleinere Mengen kämen im Auftrag von ungarischen Kunden zur Bevorratung.

Routen an Schwarzmeerhäfen kompensieren

Die Routen an den Schwarzmeerhäfen müssen aufgrund ihres Ausfalls kompensiert werden. Dies führe wiederum zu einem Transportbedarf durch Ungarn, der sich den Angaben von RCH zufolge auf fünf Millionen Tonnen Getreide pro Jahr belaufen würde. Dieser Nachfrage stünden die Leistungen der Umschlagskapazitäten (über 1.000 Tonnen/Tag) und die limitierte Anzahl der Güterwagen gegenüber.

Die Tochtergesellschaft der Rail Cargo Group in Ungarn, die Rail Cargo Hungaria (RCH), wickelt den Angaben zufolge 75 Prozent der ungarischen Getreidetransporte ab. 700 eigene und die 1.500 zugeteilten Getreidewagen der Rail Cargo Group stehen in erster Linie für die Exporttransporte von einer Million Tonnen ungarischer Ernte zur Verfügung. Obwohl man danach strebe, Güterwagen für die neuen Verkehre zur Verfügung zu stellen, könne die Nachfrage nur so gedeckt werden, wenn kundenseitig auch Wagen vorhanden seien, die nicht speziell für Getreidetransport gebaut wurden, aber ebenfalls für diesen Zweck geeignet sind.

Getreidetransport aus Ukraine Novum für Ungarn

Früher kam Getreide aus der Ukraine nur selten per Bahn nach Ungarn. Aus diesem Grund wurde die Kapazität zum Transport solcher Getreidemengen, einschließlich der Mittel zum Verladen und Lagern von Ernten, nicht errichtet. Darüber hinaus führen die derzeitigen Instandhaltungsarbeiten an der ungarischen Eisenbahninfrastruktur dazu, dass die Durchsatzkapazität der Strecke begrenzt ist. Der Zuwachs der ukrainischen Getreideverkehre startete schon im November 2021, da wegen der hohen ungarischen Ankaufspreise die Händler ihre heimischen Vorräte aufgefüllt haben. Die Kriegssituation beschleunigte das Versandtempo, und das Volumen der Ernte nahm ebenfalls zu. Die Rail Cargo Group in Ungarn arbeitet an der Umsetzung von umfassenden Bahn- und Logistiklösungen, um die erhöhte Anfrage erfüllen zu können.

Nagy: Kapazitäten ausbauen

Der ungarische Landwirtschaftsminister István Nagy sieht in der Bereitstellung eines Landkorridors für die Waren die einzige Möglichkeit, einen Weg zu finden, die 20 Millionen Tonnen ukrainischen Getreides, die im Land festsitzen, freizugeben. Dieser könne „nicht verzögert werden“. Dazu „müssen wir die Lager- und Aufnahmekapazitäten an der ungarisch-ukrainischen Grenze ausbauen“, sagte der Minister der ungarischen Zeitschrift „Magyar Nemzet“. Er fordert:

  • den Ausbau der Umschlaganlagen,
  • neue Gleise und
  • Zwischenlagerkapazitäten,
  • vor allem Waggons.

Dies ist nur mit einer sehr ernsthaften internationalen Zusammenarbeit möglich. Bei zwanzig Millionen Tonnen ukrainischem Getreide, die knapp sind, stehe die Versorgungssicherheit vieler Länder auf dem Spiel.

LKW-Routen an die Donau

Derzeit wird ein Großteil der Transporte per LKW aus der Ukraine über Ungarn zu den Schwarzmeerhäfen Reni, Galatz (beide Rumänien) und Izmail (Ukraine) geleitet. Allerdings bleiben die LKW-Transporte aus der Ukraine über Ungarn in der übertriebenen Zollbürokratie durch die ukrainischen Grenzbehörden stecken. Beobachter vor Ort berichten über Standzeiten von bis zu 48 Stunden, weil die LKW so unsinnige wie langwierige Prüfungen wie Schmuggelware in den Getreidetransporten vornehmen. Es kommt eine lange Reihe von Problemen hinzu, die Transporte aus der Ukraine über den Westen auf die Weltmärkte illusorisch erscheinen lassen:

  • unterschiedliche Abgasnormen bei LKW zwischen Ukraine und dem Westen
  • fehlende Zertifizierung von Getreidetransporten nach dem europäischen GMP-Standard (Good Manufacturing Practice) bei Lieferungen aus der Ukraine; das GMP+ Schema betrachtet die gesamte Herstellerkette vom Rohstoffproduzenten bis zum Transportunternehmen und darüber hinaus. Eine GMP-Zertifizierung unterstützt die Lebensmittelsicherheit in sämtlichen Bereichen und ist Voraussetzung für sichere Lebensmittel und den verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen.
  • für Kohletransporte zu den wieder politisch stärker befürworteten Kohlekraftwerken ausgebuchte Binnenschiffkapazitäten auf dem Rhein
  • Niedrigwasser auf Rhein und Elbe
  • Unterschiedliche Anforderungen an Schiffe auf der Donau in den verschiedenen Durchfahrtsländern

Klaus Ludorf, seit Jahrzehnten mit der Situation auf der europäischen Transversalen Nordsee-Schwarzes Meer vertrauter Schiffskapitän und Binnenschiffreeder, IZB- Cargo & Co. GmbH in Triefenstein:

„Seit Jahren wurde nichts getan, um Alternativen für Transporte aus der Ukraine auf die Weltmärkte zur Verladung über Odessa aufzubauen. Jetzt sind die Möglichkeiten dazu nicht gegeben. Und sie wird es auf lange Sicht auch nicht geben, egal was die EU auf ihrem Wunschzettel stehen haben mag.“

Nagy: „Dazu müssen wir die Lager- und Aufnahmekapazitäten an der ungarisch-ukrainischen Grenze ausbauen. Wir brauchen den Ausbau der Umschlaganlagen, neue Gleise und Zwischenlagerkapazitäten, aber vor allem brauchen wir Waggons.“ Dies sei nur mit einer sehr ernsthaften internationalen Zusammenarbeit möglich – „bei zwanzig Millionen Tonnen ukrainischem Getreide, die knapp sind, steht die Versorgungssicherheit vieler Länder auf dem Spiel.“

In der Ukraine stecken nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), auf die sich die „Tagesschau“ beruft, knapp 25 Millionen Tonnen Getreide fest. Der stellvertretende FAO-Direktor der Abteilung Märkte und Handel, Josef Schmidhuber, habe bei einer Pressekonferenz in Genf von einer „nahezu grotesken Situation“ gesprochen. Die Getreidemenge könne eigentlich exportiert werden, könne aber das Land nicht verlassen, „einfach wegen der fehlenden Infrastruktur und der Blockade der Häfen“, so Schmidhuber.

Ukraine will Exporte wieder ausbauen

Wie die Sendung weiter mitteilt, will die Ukraine nun ihre Exportkapazitäten durch den Ausbau von Anlagen an ihrer Westgrenze steigern. Das Vorkriegsniveau werde aber dennoch in weiter Ferne bleiben, zitieret sie den stellvertretenden Infrastrukturminister Juri Waskow. Über die Seehäfen seien ursprünglich 75 Prozent des ukrainischen Außenhandels abgewickelt worden, doch seien sie wegen der russischen Invasion inzwischen geschlossen. „Die Westgrenzen und die Donauhäfen sind heute die einzige Möglichkeit, zu exportieren und zu importieren“, so Waskow. Man habe das Handelsvolumen über die Donauhäfen bereits vervierfacht.

Allein im letzten April seien 3,5 Millionen Tonnen Fracht über die westlichen Grenzen auf der Schiene transportiert worden. Der nationale Eisenbahnbetreiber habe dafür Grenzterminals entwickelt. Von all diesem erhofft sich Waskow eine Zunahme der Kapazität der Westgrenze in den nächsten Monaten um 50 Prozent.

Weizenernte in Ukraine könnte 2022 einbrechen

Unterdessen könnte die Weizenernte in der Ukraine in diesem Jahr um rund ein Drittel (35 Prozent) niedriger ausfallen als im vergangenen Jahr. „Tagesschau“ beruft sich dabei auf Einschätzungen der französischen Datenanalysefirma Karryos. Die Firma geht von einer Produktion von 21 Millionen Tonnen Weizen aus – zwölf Millionen Tonnen weniger als 2021 und 23 Prozent weniger als der Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre. Da die Kämpfe anhielten und sich ein Großteil der Produktion im stark umkämpften Osten der Ukraine befinde, dürfte der tatsächliche Ertrag letztlich noch geringer sein als es die derzeitige Beobachtung nahelege, warnte die Analysefirma. Die Ukraine gilt wegen ihrer fruchtbaren Böden als Kornkammer Europas. Vor dem Krieg war das Land der weltweit viertgrößte Exporteur von Mais und auf dem besten Weg, der drittgrößte Exporteur von Weizen zu werden. Das Land trug zwölf Prozent zu den weltweiten Weizen-Exporten bei. Angesichts von Nahrungsmittel-Engpässen wegen des Ukraine-Kriegs will UN-Generalsekretär António Guterres das Land zurück an den Weltmarkt bringen.

Autor*in: Friedrich Oehlerking (Freier Journalist und Experte für Einkauf, Logistik und Transport)