20.07.2022

Mehrfamilienhaus nach Bauordnung ein Gebäude?

Nachbarn und Bauaufsicht streiten sich darüber, ob ein aus mehreren Häusern bestehendes Mehrfamilienhaus als ein Gebäude anzusehen ist (OVG Lüneburg, Beschl. vom 10.06.2022, Az. 1 ME 46/22).

Mehrfamilienhaus Bauordnung Gebäude

Neubau eines Mehrfamilienhauses mit 5 Häusern

Nachbarn wenden sich gegen eine für das angrenzende Grundstück erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses. Durch den Neubau befürchten sie eine Beeinträchtigung insbesondere der Belichtung und Besonnung ihrer eigenen mit Einfamilienhäusern bebauten Grundstücke. Ihre Wohnhäuser und Hausgärten sind nach Süden ausgerichtet.

Südlich gegenüber soll ein Mehrfamilienhaus mit insgesamt 65 Wohneinheiten, einer Gewerbeeinheit sowie einer Tiefgarage errichtet werden. Der Neubau besteht – einschließlich der ausgebauten Dachgeschosse – aus den Häusern A bis E mit fünf bis sieben Geschossen und erreicht eine Gesamthöhe von 17 bis 22 m. Alle Häuser sollen auf einer gemeinsamen Tiefgarage errichtet werden und sind unterkellert.

Gegen die Baugenehmigung legten die betroffenen Nachbarn Widerspruch ein und beantragten die Aussetzung der sofortigen Vollziehung. Sie begründen ihren Widerspruch und den Antrag auf Wiederherstellen der aufschiebenden Wirkung damit, dass die Häuser A bis E eigenständige Gebäude seien, sodass die Grenzabstände nicht durchweg eingehalten werden.

>>> Tipp der Redaktion: Lesen Sie auch „Verfallene Gebäude – Was ist zu veranlassen?“

Wie wird baurechtlich ein Gebäude definiert?

Nach den Bauordnungen der Bundesländer (BauO, hier § 2 Abs. 2 NBauO) sind Gebäude im bauordnungsrechtlichen Sinne selbständig benutzbare, überdeckte bauliche Anlagen, die von Menschen betreten werden können und geeignet oder bestimmt sind, dem Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen zu dienen.

Der Begriff der selbständigen Benutzbarkeit ist auf funktionale und bautechnische Gesichtspunkte bezogen. Ein Gebäude muss selbst über diejenigen zentralen Merkmale verfügen, die nach seiner Zweckbestimmung zu einer ordnungsgemäßen Nutzung notwendig sind.

Grundsätzlich erforderlich sind ein eigenes Fundament, ein eigener Zugang mit gegebenenfalls eigenem Treppenhaus im Inneren, Abschlusswände nach außen und eine eigene Überdachung. Nicht erforderlich ist dabei, dass Fundament, Decken, Außenwände und Dach von benachbarten Bauten konstruktiv getrennt sind und das Gebäude demzufolge bei statischer bzw. baukonstruktiver Betrachtung für sich Bestand haben könnte. Erforderlich ist aber eine zumindest gedankliche Teilbarkeit in vertikaler Hinsicht; „unter einem Dach“ oder „auf einem Geschoss“ kann es keine verschiedenen eigenständigen Gebäude geben.

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Selbstständigkeit bedeutet nicht Autarkie

Der Begriff der selbständigen Benutzbarkeit ist nicht mit dem Begriff der Autarkie zu verwechseln, folgerte das OVG. Der Gebäudeeigenschaft steht es daher nicht entgegen, wenn sich mehrere Gebäude gemeinsame, auch baurechtlich notwendige Anlagen wie beispielsweise Zuwegungen, Stellplätze sowie Vorrichtungen für die Abfallentsorgung und die Versorgung mit Energie, Wasser und Telekommunikation teilen.

Je weitergehend allerdings die funktionale und vor allem auch bautechnische Verschränkung mehrerer baulicher Anlagen ausfällt, umso näher liegt die Annahme, es handele sich nicht mehr um mehrere, sondern um ein Gebäude.

Erforderlich ist stets eine wertende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls. In die Wertung ist einzustellen, ob bei natürlicher Betrachtungsweise, in die die baukonstruktiven Merkmale der Bauausführung sowie das Erscheinungsbild und die Funktion der betrachteten Bauteile einzubeziehen sind, voneinander unabhängige Gebäude angenommen werden können.

Wie legt das Gericht dies in der Praxis aus?

Die einzelnen Häuser A bis E sind bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung nicht i. S. der BauO (hier § 2 Abs. 2 NBauO) selbständig benutzbar, urteilte das Gericht.

Sie verfügen zwar über eigene Eingänge, eigene Treppenhäuser mit Zugang zu den verschiedenen Wohnungen, eigene Keller und Abstellräume sowie einen jeweils eigenen Zugang zur Tiefgarage. Zudem befinden sich zwischen den einzelnen Häusern Trennwände. Auch optisch erwecken sie den Eindruck eigenständiger Gebäude. Dieser Annahme steht jedoch entgegen, dass alle Häuser teilweise auf einer gemeinsamen Tiefgarage errichtet sind, die an das jeweilige Kellergeschoss anschließt. Diese Tiefgarage verbindet die einzelnen Häuser sowohl baukonstruktiv als auch funktional in einer Weise, die die Annahme selbständiger Gebäude ausschließt.

Ergebnis

Weil die Häuser A bis E eigenständige Gebäude sind, werden die Grenzabstände eingehalten. Die Klage der Nachbarn wurde daher abgewiesen.

Den Beschluss finden Sie hier.

Autor*in: Uwe Schmidt (Uwe Schmidt unterrichtete Ordnungsrecht, Verwaltungsrecht und Informationstechnik.)