22.06.2023

DVR: Vision Zero ins Straßenverkehrsgesetz

Kaum einer kennt es, aber fast alle fahren mit ihm – mehr oder weniger gut: das Straßenverkehrsgesetz. Die Grundlage der weit bekannteren Straßenverkehrsordnung hat Schlaglöcher bekommen. Die Regierung bereitet einen neuen Belag vor. Derweil sorgt die LKW-Maut für Unmut.

Straßenverkehrsgesetz

Klimaschutz und städtebauliche Entwicklung  

Laut Koalitionsvertrag soll das wenig bekannte Gesetz, das die Grundlagen der Straßenverkehrsordnung (StVO) bildet, das Straßenverkehrsgesetz (StVG), reformiert werden. Nun hat Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) einen Referentenentwurf vorgelegt. Das meldet der „Changing Cities e.V.“. Klimaschutz und städtebauliche Entwicklung sollen Eingang ins Gesetz finden. Gerade mal 24 Stunden hätten die Verbände Zeit gehabt für eine Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV). Das ist nicht nur für einen Verband wie Changing Cities, der zum großen Teil aus Ehrenamtlichen besteht, eine Herauforderung. Zivilgesellschaftliche Beteiligung nur über ein so kurzes Zeitfenster zu ermöglichen, lässt den Verein mutmaßen, dass eine wirkliche demokratische Beteiligung vom Ministerium gar nicht erwünscht sei oder nicht priorisiert werden könnte. 

Über 50 Radentscheide 

„Für zivilgesellschaftliche Organisationen ist eine 24-stündige Frist nicht hinnehmbar. In den letzten Jahren hat die Zivilgesellschaft über 50 Radentscheide auf die Beine gestellt – das sind mindestens 100.000 Stunden ehrenamtliche Arbeit, in denen die Kommunen und Länder unterstützt werden, die Mobilitätswende voranzutreiben. Grundsätzlich begrüßen wir den Entwurf, denn ständig schränkt das Bundesrecht dabei den Handlungsspielraum der Kommunen ein. Wir werden den Weg durch die Gesetzgebungsorgane aufmerksam begleiten,“ kommentiert Ragnhild Sørensen von Changing Cities. 

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Nebenziele fehlen noch 

Offenbar noch im Zeitpensum kam der Entwurf aus dem Hause Wissing für den Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR). Er sieht in dem vorliegenden Reformvorschlag zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes einen „Schritt in die richtige Richtung“, so der Rat in einer Pressemitteilung. Die Gestaltung eines sicheren Verkehrssystems im Sinne des Präventionsprinzips könnte seiner Ansicht nach die Aufnahme der Nebenziele erleichtern:  

  • Klima- und Umweltschutz,  
  • Gesundheit sowie  
  • städtebauliche Entwicklung.  

Damit Kommunen dafür tatsächlich mehr Handlungsspielräume bekommen, seien in einem nächsten Schritt Änderungen der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) und gegebenenfalls weiterer Verordnungen erforderlich. 

Vision Zero als Hauptziel ins Straßenverkehrsgesetz 

Wichtig aus Sicht der Verkehrssicherheit sei die „Vision Zero“. Sie ist ein auch von der Politik formuliertes Ziel. Sie sollte daher ganz explizit als Hauptziel ins Straßenverkehrsgesetz aufgenommen werden, so der DVR. „Dann hätten wir für alle wesentlichen Bereiche und Anwendungsfälle des Verkehrsrechts Klarheit“, so Manfred Wirsch, Präsident des DVR. Schließlich kenne das Verkehrsrecht die Vision Zero bereits in der Allgemeinen Vorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO). Diese schreibe den zuständigen Behörden bereits heute vor, die Vision Zero als Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen anzuwenden. Mit einer Aufnahme ins Straßenverkehrsgesetz könnte dies gesetzlich für alle Bereiche des öffentlichen Straßenverkehrs festgeschrieben werden. 

Null Tote im Verkehr 

Das Ziel der Vision Zero ist es, Schwerverletzte und Tote durch Verkehrsunfälle auf null zu senken. Der Bundesrat hat am 25. Juni 2021 der Vorlage zugestimmt, dieses Ziel zur obersten Priorität der Straßenverkehrsordnung zu machen. In Artikel 1 der VwV-StVO heißt es: „Oberstes Ziel ist dabei die Verkehrssicherheit. Hierbei ist die ‚Vision Zero‘ (keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden) Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen.“ Die Vision Zero ist damit künftig grundlegend für alle Maßnahmen, die im Straßenverkehr durchgeführt werden sollen. Künftig müssen also alle Maßnahmen, die im Straßenverkehr durchgeführt werden, dazu beitragen, dass es keine Toten und Schwerverletzten mehr gibt. Das gilt beispielweise für:  

  • die Gestaltung von Kreuzungen,  
  • die Anlage von Fußgängerüberwegen oder  
  • die Einführung oder Änderung von Geschwindigkeitsbeschränkungen.  

Inhaltliche Fortschritte 

Inhaltlich kann der Entwurf aus Sicht von Changing Cities einige Fortschritte vorweisen:  

  • Das bestehende StVG priorisiert noch die Leichtigkeit und Sicherheit des Kfz-Verkehrs. Alle anderen Mobilitätsformen haben nur dann eine Berechtigung, wenn nachweislich Gefahr für die Verkehrsteilnehmenden besteht. Mit dem nun vorgeschlagenen Entwurf werde es insbesondere für Kommunen – falls er mit den neuen Zielen den Weg durch den Bundestag und Bundesrat schafft – viel leichter, den Umweltverbund aus Gründen des Klimaschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung zu priorisieren und auf die Straße zu bringen.  
  • Ganz verabschiedet habe sich der Entwurf jedoch nicht von der Leichtigkeit des Kfz-Verkehrs. Er stelle lediglich die Leichtigkeit mit dem Klimaschutz, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung gleich. Diese Gleichstellung ermögliche aber immerhin einen Interpretationsspielraum, der die Mobilitätswende erheblich erleichtern könnte.  
  • Voraussetzung für die Wirkung der Novelle sei die zügige Neuausrichtung des StVO. Ziele zu formulieren bleibe wirkungslos, wenn sie nicht konkret mit Maßnahmen und geeigneten Anordnungsmöglichkeiten hinterlegt würden. Dies gelte insbesondere für die Abschaffung des Paragraphen 45, Absatz 9 StVO „Gefahrenabwehr“, der im heutigen Recht eine Hemmschwelle darstellt für die Anordnung von z. B.:  
    • Bussonderstreifen ,  
    • Radwegen,  
    • Zebrastreifen u.v.m..  
  • Neben den Neuerungen beim Klimaschutz, Gesundheitsschutz und der städtebaulichen Entwicklung müsste die Vision Zero dringend als Ziel mit aufgenommen werden. Zwar wirken die bisher genannten Ziele oft fördernd für die Verkehrssicherheit, jedoch sei die Vision Zero entscheidend für den Ausbau des öffentlichen Raums und die Zunahme an aktiver, nicht geschützter Mobilität. 

Changing Cities e.V. fördert zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Als sein bislang größtes Projekt sieht der Verein den Volksentscheid Fahrrad in Berlin an, mit dem es 2016 gelungen sei, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen.  

Unzufriedenheit mit der Maut 

Ganz und gar nicht zufrieden ist unterdessen die Transportbranche mit dem Verkehrsminister und dem Entwurf seiner Regierung zum Dritten Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften, mit dem u.a. eine annähernde Verdopplung der Lkw-Maut zum 1. Dezember 2023 verbunden wäre. Dazu erklärt der Vorstandssprecher des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) e.V., Prof. Dr. Dirk Engelhardt: „„Bei den mittelständischen Transport- und Logistikunternehmen herrscht Fassungslosigkeit über die von den Grünen vorangetriebene und nun von der Bundesregierung beschlossene Mautverdopplung zum 1. Dezember.“ In einer Mischung aus Existenzsorgen, Wut und empfundener Geringschätzung über die tägliche Leistung dieser systemrelevanten Branche bei der Versorgung der Bevölkerung hätten den BGL unzählige Hilferufe und Appelle erreicht.  

Rote Karte 

In einer Social Media-Kampagne zeige das Gewerbe hierfür der Bundesregierung die Rote Karte. Da es am Markt kaum emissionsfreie Lkw und keine entsprechende Tank- und Ladeinfrastruktur gibt, gleiche die Mautverdopplung einer Steuererhöhung, die nicht vermieden werden könne. Die Verbraucher zahlten die Rechnung und dort, wo nach den Kostenexplosionen in den letzten Jahren weitere Preissprünge nicht machbar seien – vor allem auf dem Land –, fürchteten viele Mittelständler, ihre Betriebe aufgeben zu müssen. Das Parlament müsse daher diesen „sinnlosen Inflationstreiber stoppen, zu seriöser Wirtschafts- und Klimapolitik zurückkehren und eine ordentliche, planbare Mautreform auf den Weg bringen“, so Engelhardt. 

BGL-Forderungen an das Parlament  

Der BGL fordert für die anstehenden parlamentarischen Beratungen: 

  1. Planungssicherheit durch Verschiebung der CO2-Maut auf 2025.
  2. Einführung eines Stufenmodells für die CO2-Maut, das Marktverfügbarkeit von emissionsfreien Fahrzeugen sowie Flächenverfügbarkeit alternativer Tank- und Ladeinfrastruktur Rechnung trägt und mit 100 Euro pro Tonne CO2 startet.
  3. Gleichstellung von biogenen Kraftstoffen und E-Fuels mit emissionsfreien Fahrzeugen durch Mautvorteile entsprechend dem tatsächlichen CO2-Vorteil.
  4. Einhaltung der Koalitionszusage zur Vermeidung der Doppelbelastung durch nationalen Emissionshandel und CO2-Maut.
  5. Verzicht auf die Ermächtigung, die Maut in Stoßzeiten zu erhöhen oder bei wenig Verkehr zu ermäßigen, da dies in Preisverhandlungen mit Auftraggebern nicht kalkulierbar ist und zulasten des mittelständischen Gewerbes geht.
  6. Verdopplung des Mautharmonisierungsprogramms mit Mauterhöhung und Mautausweitung auf Fahrzeuge ab 3,5 t zulässiges Gesamtgewicht.
  7. Erhalt des Finanzierungskreislaufs Straße, um Mehreinnahmen in die marode Straßeninfrastruktur, den Lkw-Stellplatzausbau sowie die klimafreundliche Transformation des Straßengüterverkehrs investieren zu können. 

Nachfrage nach Logistik lässt nach 

Unterdessen bereitet eine gesunkene Nachfrage nach Transportkapazitäten den Verkehrs- und Logistikunternehmen Sorgen. Das geht aus aktuellen ifo-Umfragedaten hervor. „Die – teilweise sehr deutlichen – Preisanstiege für viele Transport- und Logistikdienstleistungen haben zuletzt bereits zu einer gesunkenen Nachfrage geführt“, sagt ifo-Branchenexperte Patrick Höppner. Zusätzlich belaste die gegenwärtig gedämpfte Entwicklung der gesamten Wirtschaft die Nachfrage nach Beförderungsdienstleistungen – insbesondere im Güterverkehrsbereich. Im zweiten Quartal 2023 nahmen 35,2 Prozent der Verkehrs- und Logistikunternehmen eine unzureichende Nachfrage wahr, nach 33,8 Prozent im ersten Quartal.  

Trotzdem bleibe der Fachkräftemangel für viele Unternehmen im Verkehrs- und Logistikbereich ein großes Problem. Im zweiten Quartal 2023 meldeten 48,3 Prozent der befragten Verkehrs- und Logistikunternehmen Probleme bei der Personalgewinnung. „Mittelfristig ist eine weitere Verschärfung zu erwarten: Beim Fahrpersonal ist demografiebedingt ein weiterer Rückgang des Arbeitskräftepotenzials absehbar“, sagt Höppner. 

Autor*in: Friedrich Oehlerking (Freier Journalist und Experte für Einkauf, Logistik und Transport)