17.12.2021

Wie stark darf man während Corona in Grundrechte eingreifen?

Gegen das vom 22.04. bis zum 30.06.2021 geltenden Konzept zum Schutz vor der dritten Welle der Corona-Pandemie, welches als „Bundesnotbremse“ bezeichnet wurde und in dem der Bund insbesondere Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie das Schließen von Schulen anordnete, klagten über 300 Betroffene vor dem BVerfG (BVerfG, Beschlüsse vom 19.11.2021, Az. 1 BvR 781/21 sowie 1 BvR 889/21; 1 BvR 860/21; 1 BvR 854/21; 1 BvR 820/21; 1 BvR 805/21; 1 BvR 798/21; 1 BvR 971/21; 1 BvR 1069/21).

Corona Grundrechte

Ziel: Überlastung des Gesundheitswesens verhindern

Hintergrund der Bundesnotbremse war bei einer Impfquote von unter 10% eine stark steigende Sieben-Tage-Inzidenz (folgend: Inzidenz) als damaliger Indikator für das Infektionsgeschehen sowie eine Hospitalisierungsrate von rund 10. Der Bund wollte mit der Neufassung des § 28 IfSG die dritte Corona-Welle brechen und damit eine Überlastung des Gesundheitswesens verhindern.

Die Bundesnotbremse sollte bei einer Inzidenz von über 100 greifen.

  • Schulen sollten ab dem Schwellenwert 100 den Unterricht wechselnd in Gruppen abhalten;
  • ab einer Inzidenz von 165 war der Präsenzunterricht untersagt und Schulen mussten schließen.
  • Des Weiteren durften sich Personen eines Haushaltes nur mit einer anderen Person und deren Kindern bis 14 Jahren treffen.
  • Zudem galten mit Ausnahmen nächtliche Ausgangsbeschränkungen zwischen 22.00 und 5.00 Uhr.

Waren die Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt?

Unbestritten griff der Bundesgesetzgeber mit der Zustimmung des Bundesrates so stark wie noch nie in die durch das GG geschützten Freiheitsrechte der Bürger ein. Über 300 Klägerinnen und Kläger riefen deswegen das BVerfG an und argumentierten, diese Eingriffe seien verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Die meisten Klagen richteten sich gegen Ausgangsbeschränkungen (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG a.F.), Kontaktbeschränkungen (§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG a.F.) und das Schließen von Schulen (§ 28 Abs. 3 IfSG a.F.)

Eilanträge abgewiesen

Im Eilverfahren entschied das BVerfG, weder die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen noch die Schulschließungen seien offensichtlich verfassungswidrig, der Ausgang des Hauptverfahrens aber offen. Bei der vorzunehmenden Folgenabwägung stufte das Gericht den Schutz der Rechtsgüter von Gesundheit und Leben höher ein als die Einschränkung der Freiheitsrechte.

BVerfG setzt im Hauptverfahren Maßstäbe

Mit den Beschlüssen vom 19.11.2021 im Hauptsacheverfahren setzt das BVerfG Maßstäbe, inwieweit Staat und Verwaltung in die Grundrechte der Bürger eingreifen dürfen, um andere Rechtsgüter zu schützen. Die Bundesnotbremse, so das BVerfG diente in ihrer Gesamtheit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen. Bei seiner Entscheidung konnte sich das Gericht auf eine umfangreiche Gesetzesbegründung sowie Expertisen von Fachleuten stützen.

Kontaktbeschränkungen gerechtfertigt

Die Kontaktbeschränkungen griffen sowohl in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG als auch in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein:

Der Gesetzgeber verfolgte mit den Kontaktbeschränkungen verfassungsrechtlich legitime Zwecke. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs sollten insbesondere Leben und Gesundheit geschützt werden. Diese Ziele sollten durch effektive Maßnahmen zur Reduzierung von zwischenmenschlichen Kontakten erreicht werden. Oberstes Ziel war es, die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen sowie deren exponentielles Wachstum zu durchbrechen. So wollte man eine Überlastung des Gesundheitssystems insgesamt vermeiden und die medizinische Versorgung bundesweit sicherstellen.

Sowohl der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Gesundheit umfasst, kann zudem eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen umfasst.

Ausgangsbeschränkungen gerechtfertigt

Die Ausgangsbeschränkungen griffen in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG sowie in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG und in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Sie untersagten den Betroffenen über die Kontaktbeschränkungen hinaus, ihre familiären und partnerschaftlichen Zusammenkünfte frei zu gestalten.

Die Annahme des Gesetzgebers, mittels der Ausgangsbeschränkungen die Anzahl der Infektionen reduzieren zu können, hält sich innerhalb des ihm bei der Einschätzung der Eignung und der Erforderlichkeit einer Maßnahme zustehenden Spielraums. Sie sollten die allgemeinen Kontaktbeschränkungen und die sonstigen Schutzmaßnahmen unterstützen und insbesondere die Einhaltung der Kontaktbeschränkungen in geschlossenen Räumen sichern. Dies beruhte auf der hinreichend tragfähigen Annahme, dass der Virusübertragung und Ansteckung in Innenräumen zwar durch Schutzmaßnahmen wie Abstandhalten, Tragen von Masken, Lüften und allgemeiner Hygieneregeln entgegengewirkt werden kann, dass dies aber zur Abend- und Nachtzeit und im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist.

Dass der Gesetzgeber sich dafür entschied, solche Zusammenkünfte von vornherein über vergleichsweise einfach zu kontrollierende Ausgangsbeschränkungen zu reduzieren, war angesichts der bestehenden Erkenntnislage verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Ergebnis

Die Kontakt- und selbst die Ausgangsbeschränkungen waren in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem GG vereinbar und trotz ihrer schwerwiegenden Eingriffe verhältnismäßig.

Der Gesetzgeber hat einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen den mit den Ausgangsbeschränkungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den durch die Beschränkungen bewirkten erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Im Rahmen seines Schutzkonzepts räumte er nicht einseitig dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems Vorrang ein. Er hat mit den speziell die Ausgangsbeschränkungen betreffenden Ausnahmeregelungen grundrechtlich geschützt, entgegenstehende Belange besonders berücksichtigt.

Schulschließungen verfassungsmäßig

Kinder und Jugendliche haben gegenüber dem Staat ein Recht der auf schulische Bildung. Die Schulschließungen haben dieses Recht in schwerwiegender Weise beeinträchtigt.

Überragende Gemeinwohlbelange

Diesen Eingriffen standen aber infolge des dynamischen Infektionsgeschehens zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Bundesnotbremse Ende April 2021 überragende Gemeinwohlbelange in Gestalt der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit und für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gegenüber. Die Einschätzung des Gesetzgebers, diesen Gefahren durch Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie durch das Schließen von Schulen zu begegnen, waren seinerzeit vertretbar.

Eingriffe auch verhältnismäßig

Das Gericht sah die Eingriffe auch als verhältnismäßig an. Die Schulen wurden im Gegensatz zu den sonstigen Beschränkungen zwischenmenschlicher Kontakte, die bei einer Inzidenz von 100 im jeweiligen Landkreis oder der jeweiligen kreisfreien Stadt ausgelöst wurden, erst bei einem weit höheren Wert von 165 geschlossen. Entfallender Präsenzunterricht musste durch Distanzunterricht ersetzt werden. Die Schulschließungen waren auf einen kurzen Zeitraum von gut zwei Monaten befristet. Damit war gewährleistet, dass die schwerwiegenden Belastungen nicht über einen Zeitpunkt hinaus gelten, zu dem der Schutz von Leben und Gesundheit etwa infolge des Impffortschritts seine Dringlichkeit verlieren konnte. Schließlich wurden neben den Schutzmaßnahmen flankierende Maßnahmen getroffen bzw. vorbereitet (StopptCOVID-Studie, DigitalPaktSchule).

Autor*in: Uwe Schmidt (Uwe Schmidt unterrichtete Ordnungsrecht, Verwaltungsrecht und Informationstechnik.)