18.05.2017

Gewalt am Arbeitsplatz: Sie als Betriebsrat schützen davor mit dem Aachener Modell

Statistiken zeigen: Gewalttätige Übergriffe am Arbeitsplatz sind keine Einzelfälle. Betroffene Arbeitnehmer leiden nicht selten anhaltend unter solchen Vorfällen. Der Ausschuss für Arbeitssicherheit bietet die Möglichkeit, gemeinsam mit den Beauftragten Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer zu entwickeln und umzusetzen. Ein hilfreiches Instrument dabei ist das sogenannte Aachener Modell.

Gewalt am Arbeitsplatz

Geschäftsführung Betriebsrat. Gewalt am Arbeitsplatz trifft Arbeitnehmer der unterschiedlichsten Berufsgruppen. Das ergab eine Studie der Deutschen Hochschule der Polizei und der zuständigen Berufsgenossenschaft (BGHW). Pro Jahr werden demnach ca. 1.800 Arbeitnehmer bei der Bahn und ca. 1.100 Arbeitnehmer im Bereich Handel verletzt. In Kliniken und Pflegeeinrichtungen berichten 56 % der Arbeitnehmer von körperlichen Attacken, 78 % waren verbaler Gewalt ausgesetzt. Der Schutz der Arbeitnehmer ist hier wörtlich zu nehmen: Viele fühlen sich zurecht an ihren Arbeitsplätzen bedroht und haben in der Folge auch psychische Beschwerden. Gefragt sind Sicherheitskonzepte, die Arbeitnehmer wirksam schützen und ihnen Sicherheit geben. Orientieren können sich Arbeitgeber und Betriebsräte dabei am Aachener Modell.

Erster Schritt: Gefahrenlage einschätzen

Zunächst gilt es zu analysieren, welches Gefahrenpotenzial sich für die einzelnen Arbeitsplätze ergibt. Dies ist in der Praxis nicht immer einfach. Mit dem Aachener Modell lassen sich Szenarien („Was könnte passieren?“) verschiedenen Gefährdungsstufen zuordnen. Einerseits muss dabei realistisch vorgegangen werden, denn nicht jede theoretisch denkbare Gefahr kann im Rahmen von Präventionsmaßnahmen berücksichtigt werden (z.B. Geiselnahme). Auf der anderen Seite darf die Gefahrenlage nicht verharmlost werden. Um zu einer realistischen Einschätzung zu kommen, empfiehlt es sich, bisher dokumentierte Vorfälle als Grundlage zu nehmen und mittels eines Fragebogens die tatsächliche Gefährdung zu ermitteln. Hinzu kommen noch Erfahrungsberichte, Umfragen und Studien, die aufzeigen, was bei ähnlichen Arbeitsplätzen passieren kann.

Internet-Tipp

Weitere Hinweise zum Aachener Modell und Tipps für Arbeitnehmer, wie sie sich im Ernstfall verhalten können, sowie das Muster für einen Fragebogen für die Befragung von Arbeitnehmern finden Sie im Internet unter http://tinyurl.com/gegen-gewalt Als Orientierungshilfe für diesen Prozess kann der im Anhang befindliche Fragebogen „FoBiK– Formen der Bedrohung im Kundenverkehr“ eingesetzt werden. Er berücksichtigt die unterschiedlichen Gefahrenszenarien sowie die erlebte Häufigkeit im Arbeitsalltag und ordnet sie den einzelnen Gefährdungsstufen zu.

Gefährdungsstufe 0: „Normale“ Auseinandersetzungen

Wenn Arbeitnehmer im Publikumsverkehr arbeiten, gibt es immer auch unangenehme Gespräche, die jedoch noch nicht gefährlich sind. Dazu gehören in gereiztem Ton vorgetragene Beschwerden, Konflikte um betriebliche Themen oder unangemessene Ansprachen, die nicht strafrechtlich relevant sind. Das Aachener Modell ordnet solche Situationen der Stufe 0 zu. Arbeitnehmer sollten hier in deeskalierenden und sich selbst schützenden Strategien geschult und in der Lage sein, mit solchen Situationen selbst fertig zu werden.

Gefährdungsstufe 1: Aggression

Hier spricht das Aachener Modell von „unangepasstem Sozialverhalten“. Hinter diesem harmlosen Namen verbergen sich angstmachende Aggressionen wie Belästigung, Duzen und ein unangemessenes Distanzverhalten. Auch hier liegt noch keine strafrechtliche Relevanz vor, jedoch kann der Arbeitgeber Platzverweise und Hausverbote aussprechen. Von Arbeitnehmern kann hier nicht mehr erwartet werden, dass sie mit der Situation selbst fertig werden. Sie brauchen sowohl die Möglichkeit, sich Unterstützung zu holen als auch bei Bedarf psychologische Betreuung. Dies gilt insbesondere dann, wenn Arbeitnehmer mit kränkenden, verletzenden und entwürdigenden Beschimpfungen konfrontiert wurden. Da hier oft die Grenze zur Strafwürdigkeit überschritten wird, sind Anzeigen wegen Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung denkbar.

Gefährdungsstufe 2: Nötigung und körperliche Gewalt

Die nächste Stufe ist die strafrechtlich relevante körperliche Gewalt, die sich bereits in Handlungen wie Anschreien oder Anspucken äußert. Diese eindeutigen Handlungen haben eine Grauzone, die Nötigung. Dabei wird versucht, durch Androhen von körperlicher Gewalt ein Verhalten des Arbeitnehmers zu erzwingen. Dabei beziehen sich die aggressiven Personen nicht nur auf die Arbeitnehmer selbst, sondern auch auf Angehörige und Eigentum („Ich weiß, wo du wohnst“ und „Ich kenne dein Auto“). Bei eindeutiger Ankündigung körperlicher Gewalt wird von einer Drohung gesprochen. In diesen Fällen wird die Auseinandersetzung physisch und es besteht die Gefahr, dass sich die Beteiligten verletzen.

Unterschiedliche Schmerzgrenzen

Arbeitnehmer haben auf Grund ihrer Einstellungen, Ressourcen und Erfahrungen verschieden hohe Schmerzgrenzen und verarbeiten Vorfälle unterschiedlich. Der eine arbeitet einfach weiter, während der gleiche Vorfall bei einem anderen zu einer langfristigen psychischen Beeinträchtigung führt. Letztlich kann deshalb nur jeder Arbeitnehmer selbst wissen, ob er nach einem Vorfall Unterstützung benötigt oder nicht.

Gefährdungsstufe 3: Angriffe mit Waffen

Besonders schwerwiegend sind Übergriffe, bei denen die Täter Waffen und Werkzeuge als Hilfsmittel einsetzen. Solche Attacken werden als „gefährliche Körperverletzung“ eingestuft und mit einem höheren Strafmaß belegt. Dabei ist zu beachten, dass der Aggressor die Waffe oder das Werkzeug nicht selbst mitgebracht haben muss. Viel mehr zählen auch Gegenstände, die der Täter am Arbeitsplatz vorfindet und spontan einsetzt, wie etwa Scheren oder Messer.

Selbsthilfe kann gefährlich sein

Ein Sicherheitskonzept muss natürlich auch Anleitungen beinhalten, wie sich Arbeitnehmer in Gefahrensituationen verhalten sollen. Im Zentrum steht dabei die Frage: Sollen sich die Arbeitnehmer selbst helfen oder sollen sie sich schützen und warten, bis professionelle Hilfe (Werksschutz, Polizei) kommt?

– Grundsätzlich sollten die Arbeitnehmer darin geschult sein, Konflikte der Stufe 0 alleine sowie der Stufe 1 mit Hilfe von Vorgesetzten und Kollegen selbst zu lösen. Dem Vorgesetzten kommt hier eine besondere Bedeutung zu, weil er während der Auseinandersetzung Halt gibt und unter Umständen die Übersicht besitzt, bei anhaltender Eskalation Hilfe zu rufen. Vor allem ist er aber auch gefragt, wenn es um die Nachbereitung der Vorfälle und die notwendige Hilfe für betroffene Arbeitnehmer geht (Gespräche, Sonderurlaub, psychologische Betreuung).

– Bei den Gefahrenstufen 2 und 3 ist in der Praxis immer wieder zu beobachten, dass Arbeitnehmer sich gegenseitig furchtlos zu Hilfe eilen und dabei nicht an ihre eigene Sicherheit denken. So positiv diese Solidarität ist, sollte ab Gefahrenstufe 2 professionelle Hilfe geholt und nur passiv Eigenschutz betrieben werden. Polizei und Werkschutz sind dafür ausgebildet, mit diesen Situationen fertig zu werden.

Autor*in: Martin Buttenmüller (ist Journalist und Chefredakteur des Fachmagazins Betriebsrat INTERN.)