29.11.2019

Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung

Durch die Jahre des zweiten Jahrzehnts nach dem Jahrtausendwechsel werden viele technische Schlagworte getrieben wie z.B. Digitalisierung, Industrie 4.0, Internet of Things, künstliche Intelligenz usw. Ihnen allen gemeinsam ist die digitale technologische Basis, die auch als digitale Revolution bezeichnet wird: Informationen werden nicht mehr analog auf klassischen physikalischen Medien wie Papier oder sonstigen „anfassbaren” Produkten festgehalten.

Der digitale Wandel macht auch vorm Maschinenbau nicht Halt und die Branche sollte sich nicht vor der digitalen Transformation verschließen.

Digitalisierung und Technik-Kommunikation

Und schließlich ist es nicht mehr der Mensch, der aufgrund bestimmter Daten und Informationen bestimmte Prozesse anstößt, sondern die vernetzten Systeme selbst tun es: Das nennt man auch Internet of Things.

Die Technik-Kommunikation, also die Erstellung und Nutzung von Handbüchern und Anleitungen, ist von dem digitalen Wandel genauso betroffen wie klassische Medien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen.

Information ist kein Privileg eines menschlichen Gedächtnisses mehr

Die Informationen und die informationsverarbeitenden Prozesse finden in und zwischen Computern statt, deren grundlegende Funktionalität bekanntlich nur das digitale Bit, also die Werte 0 und 1, sowie darauf aufbauende Zählmechanismen darstellen.

Digital, analog und der Grundsatz von 0 und 1
Digital, analog und der Grundsatz von 0 und 1

Digitaler Zwilling

Dass sich die Welt einmal auf „0 und 1” und eine entsprechende Kombinatorik reduzieren lassen soll, das ist mehr als eine Revolution. Das wären letztendlich die Aufhebung der Dualität aus Geist und Materie und auch die Aufhebung von Simulation und Realität. Diese nach Science-Fiction klingende These findet in ihrer Grundidee bereits heute statt: Der digitale Zwilling als virtuelle Repräsentation oder das digitale Abbild eines realen technischen Produkts oder technischen Systems simuliert das Produkt bzw. Produktzustände und lässt Vorhersagen über künftige Produktzustände zu.

Das hat als „Predictive Maintenance” (vorausschauende Wartung) bereits Eingang in den Produktservice gefunden.

Eine klassische Dokumentation auf Papier wirkt wie ein Fremdkörper: Einen durch Predictive Maintenance erkannten Serviceauftrag mit einem dicken Handbuch zu begleiten, in dem der Servicetechniker analog mühsam nach Informationen blättern muss, die zum Servicefall passen, das wäre ein unmöglicher und unnötiger Medienbruch.

Die auf den ersten Blick erkennbaren Vorteile der Digitalisierung gehen jedoch einher mit Nebeneffekten einer totalen Überwachung nicht nur der Maschinen, sondern auch der Menschen, die die Produkte im Produktlebenszyklus begleiten von der Installation über die Wartung bis zur Entsorgung. Die Frage, was die Digitalisierung letztendlich für den Menschen bringt, offenbart Dimensionen, die über vordergründige Vorteile einer bestimmten Funktionalität weit hinausgehen können.

Philosophische, ethische oder gar religiöse Grundgesetze

Für einen erklärten Technik-Freak und Dozenten für Technik-Kommunikation erfordert es allerdings eine besondere Anstrengung, neben den nahezu offensichtlichen Vorteilen der Digitalisierung auch einmal über Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung nachzudenken. Bereits bei den ersten Überlegungen wird schnell klar, dass die eigentliche Herausforderung, die Thematik kritisch zu bewerten, in philosophischen, ethischen oder gar religiösen Grundgesetzen liegt, die ein Autor bewusst oder unbewusst zum Maßstab hat.

Aber auch bei Hilfestellungen zur Frage der Vor- und Nachteile von Digitalisierung macht es die Digitalisierung möglich: Testweise googele ich folgende Artikel (Stand 20.06.2019):

  • „Risiken Digitalisierung”: 5.090.000
  • „Nachteile Digitalisierung”: 762.000
  • „Gefahren Digitalisierung”: 3.550.000

Eine gewisse Bedeutung erlangen diese Zahlen jedoch erst durch Gegenüberstellung mit den Fundstellen zur gegenteiligen Suche:

  • „Möglichkeiten Digitalisierung”: 16.500.000
  • „Chancen Digitalisierung”: 8.360.000
  • „Vorteile Digitalisierung”: 11.000.000

Das war doch klar, oder?

Die Vorteile überwiegen offensichtlich bei Weitem! Aber bereits diese zahlenmäßige Betrachtung offenbart Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung: Wenn man alles auf Zahlen abbildet, und was nicht messbar ist, auch nicht mehr thematisiert wird, dann existieren diese nicht messbaren Sachverhalte einfach auch nicht mehr.

Es gibt zahlreiche philosophische Artikel, die eine Reduktion der Erkenntnis auf „messbare Phänomene” als äußerst fragwürdige Beschränkung ansehen. So sagt der Philosoph Richard David Precht:

„Wer heute als Soziologe, als Medienwissenschaftler oder als Politologe Professor werden will, muss messen. Darin besteht heute die intellektuelle Aufgabe, dafür kriegt man Mittel, und so kommt man weiter. Nicht mehr weiter kommt man, indem man spekulative Theorien über die Gesellschaft aufstellt, wie Niklas Luhmann das noch tat. Und in genau dieser Entwicklung liegt der Grund für das intellektuelle Schweigen. Denn mit Zahlen, die noch dazu innert Tagesfrist veralten, schafft man keine Geschichten, keine Paradigmen für die Gesellschaft. Man schafft mit ihnen bestenfalls einen Fundus, aus dem sich irgendein Staatssekretär für irgendeine Rede gelegentlich bedienen kann. Weiter reicht ihre Wirkung nicht.”

Wem das zu philosophisch war

Die Wirklichkeit allein auf (digitale) Messwerte abzubilden ist sehr fragwürdig. Das folgende Beispiel zeigt, dass so etwas auch lebensgefährlich sein kann: Der Absturz zweier Flugzeuge der Boeing 737 Max Reihe wird bekanntlich auf falsche Messwerte von Sonden zurückgeführt. Aufgrund dieser Messwerte hat die Software MCAS (Maneuvering Characteristics Augmentation System), die eigentlich einen Strömungsabriss beim Steigflug verhindern soll, den Anstellwinkel automatisch so verändert, dass die Flugzeuge schließlich abstürzten. Den Piloten war dieses Eingreifen der Software nicht bekannt.

Die Anleitungen im Handbuch zum manuellen Ändern des Anstellwinkels oder Abschalten des MCAS waren offenbar auch zu indirekt oder unklar. Manche Artikel zu den Abstürzen bezeichnen die Handbücher übrigens auch als „fast kriminell unzureichend”.

Offensichtlich waren die Informationen unzureichend und wurden in den aktualisierten Flugzeughandbüchern zumindest nicht so umgesetzt, dass die Piloten die Informationen rechtzeitig zum richtigen Handeln gefunden und verarbeitet haben.

Aus dem Boeing Flight Crew Operation Manual Handbook

Boeing hatte ursprünglich entschieden, dass man die Piloten nicht mit einer als überflüssig empfundenen Information belasten wolle, da das Eingreifen der Software MCAS so selten wäre und sich so indirekt auswirken würde, dass ein Training und eine ausführliche Dokumentation nicht nötig wären. So führten schließlich der Ausgangspunkt der falschen Messwerte und das daraus abgeleitete automatische und katastrophale Eingreifen der Software MCAS zur Tragödie.

Einen der umfassendsten Artikel zu den Abstürzen findet man auf der Website The Verge: „The many human errors that brought down the Boeing 737 Max”. The Verge ist eine Multimedia-Initiative, die 2011 gegründet wurde, um zu untersuchen, wie die Technologie das Leben in der Zukunft für viele Menschen verändern wird.

Die weiteren Ausführungen zu den Nebenwirkungen der Digitalisierung sowie zur Zielgruppenorientierung finden Sie in unserem Produkt „Technische Dokumentation“.

Autor*in: Dieter Gust (Senior Consultant und Leiter Forschung und Entwicklung bei der itl AG)