06.11.2023

Wenn (auch) eine hauptberufliche Selbstständigkeit vorliegt

Selbst ständig arbeiten – oder selbständig arbeiten? Die Rechtschreibreform hat in Verkennung des selbstständigen Wortteils „selb“ den Unterschied weggebügelt. Geblieben sind jedoch einige versicherungsrechtliche Auswirkungen solcher Tätigkeiten.

hauptberufliche Selbstständigkeit

Was ist der Unterschied zwischen selbständiger und selbstständiger Tätigkeit?

Die erste Schreibweise war üblich bis zur Rechtschreibreform von 1996. Sie ergab sich logisch aus der Zusammensetzung der Wortteile „selb“ und „ständig“. Als selbständiges Wort kommt „selb“, etymologisch verwandt mit dem englischen „self“, heute im Deutschen nach einer mit dem Artikel verschmolzenen Präposition vor wie z.B. „zur selben Zeit“, „im selben Haus“, „vom selben Stoff“, sonst in Zusammenrückungen wie „derselbe“ oder als Adjektiv mit der Endung „ig“ „selbig“. „selbständig“ als Adjektiv in der alten Schreibweise bedeutet „für sich bestehend, unabhängig, ohne Anleitung oder Hilfe von außen, allein“. Die Reform hat in Anlehnung an Wortbildungen wie „Selbstverwaltung“, „Selbstmörder“ den Bedeutungsteil „selbst“ als eigenständigen Wortteil interpretiert und anstelle des „selb“ für die Wortbildung „selbstständig“ eingeführt.

Das Versicherungsrecht übernimmt diese Schreibweise und erkennt eine selbstständige Erwerbstätigkeit, wo eine natürliche Person selbst:

  • in der Land- und Forstwirtschaft arbeitet,
  • einen Gewerbebetrieb betreibt oder
  • freiberuflich tätig ist.

In der täglichen Praxis kommt es immer wieder vor, dass sich hier Arbeitnehmer um eine Stelle in einem Unternehmen bewerben und nebenher bereits eine selbstständige Tätigkeit ausüben – also selbst in Eigenverantwortung mit Gewinnerzielungsabsicht, und nicht, wie man fälschlich lesen könnte, im Sinne von „ständig“, „immer“ oder „fortwährend“. Daraus ergeben sich Auswirkungen auf die versicherungsrechtliche Beurteilung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.

Was ist mit Gewinnerzielungsabsicht gemeint?

Auf sie ist die selbstständige Tätigkeit gerichtet und stellt auf das sozialrechtlich relevante Arbeitseinkommen ab. Dieses umfasst nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts:

  • den ermittelten Gewinn aus der selbstständigen Tätigkeit
  • steuerrechtlich maßgebliche Einkünften aus den drei genannten Betätigungsfeldern.
  • mithin alles Arbeitseinkommen und auf Erzielung von Einnahmen gerichteten Handlungen.

Das bedeutet:

  • die Tätigkeit ist lediglich darauf gerichtet, positive Einnahmen zu erzielen. Dagegen wird nicht verlangt, dass Einnahmen tatsächlich erzielt werden.
  • hingegen dienen keinen Erwerbszwecken Tätigkeiten
    • aus Liebhaberei
    • zum Zeitvertreib
    • zur Vorbereitung, eine selbstständige Tätigkeit aufzunehmen, jedenfalls soweit diese im Geschäftsverkehr nicht bereits Außenwirkung entfalten und nach dem zugrunde liegenden Gesamtkonzept ernsthaft und unmittelbar auf die spätere Geschäftstätigkeit ausgerichtet sind.

Wann geht man von einer Hauptberuflichkeit aus?

Genauer: von einer hauptberuflichen Selbstständigkeit. Sie liegt vor, wenn eine Tätigkeit den Mittelpunkt des Erwerbslebens darstellt. Wird die Hauptberuflichkeit der Selbstständigkeit festgestellt, hat diese entscheidende Bedeutung für die Beurteilung einer parallelen Angestelltentätigkeit. Dann würde im Angestelltenverhältnis keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung vorliegen. Bei der Prüfung der Hauptberuflichkeit wiegen unter Berücksichtigung aller selbstständigen Tätigkeiten der Zeit- wie auch der Geldfaktor immer gleich.

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Sind eigene Angestellte hauptberuflich tätig?

Zumindest gilt bei Personen, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Erwerbstätigkeit regelmäßig mindestens einen Arbeitnehmer mehr als geringfügig beschäftigen, die Vermutung, dass sie hauptberuflich selbstständig erwerbstätig sind; als Arbeitnehmer gelten für Gesellschafter die Arbeitnehmer der Gesellschaft selbst. Die regelmäßige Beschäftigung von Arbeitnehmern in mehr als geringfügigem Umfang stellt mithin für sich allein betrachtet zunächst ein entscheidendes Merkmal für eine hauptberuflich ausgeübte selbstständige Tätigkeit dar. Die wirtschaftliche Bedeutung und der zeitliche Umfang der selbstständigen Tätigkeit wäre man dann noch näher zu prüfen.

Was heißt in diesem Zusammenhang „Vermutung“?

Die gesetzliche Vermutung gilt generalisierend. Eine gesetzliche Vermutung regelt in der Rechtswissenschaft die Verteilung der Beweislast. Mittels einer Vermutung wird bei der Rechtsanwendung das Vorliegen einer bestimmten Tatsache nicht im Wege der Beweiserhebung ermittelt, sondern ihr Vorliegen wird kraft gesetzlicher Bestimmung als gegeben unterstellt (vermutet). Ist die Vermutung unwiderleglich oder der Beweis des Gegenteils nicht gelungen, hat der Richter sie seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 292 ZPO). Bei selbstständig Tätigen, die mindestens einen Arbeitnehmer regelmäßig mehr als geringfügig beschäftigen, gilt die Vermutung, dass sie aufgrund ihrer tatsächlichen Arbeitgebereigenschaft – unabhängig vom Umfang des persönlichen Arbeitseinsatzes – hauptberuflich erwerbstätig sind.

Werden mehrere Arbeitnehmer geringfügig beschäftigt, deren Arbeitsentgelte bei Zusammenrechnung die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten, gilt die Vermutung der Hauptberuflichkeit ebenfalls. Regelmäßig sind in diesem Sinne solche Beschäftigungen, die:

  • grundsätzlich auf Dauer angelegt sind,
  • nicht nur gelegentlich ausgeübt werden oder
  • nur von kurzer Zeitdauer sind.

Die Vermutung kann jedoch widerlegt werden, indem der Selbstständige nachweist, dass trotz der Arbeitgeberstellung die selbstständige Tätigkeit seine Lebensführung von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ihrem zeitlichen Aufwand her nicht prägt und somit nicht hauptberuflich ausgeübt wird.

Wie grenzt man selbstständige Erwerbstätigkeit von abhängiger Beschäftigung ab?

Indem man prüft, ob die selbstständige Erwerbstätigkeit von der wirtschaftlichen Bedeutung und dem zeitlichen Umfang her die übrigen Erwerbstätigkeiten deutlich übersteigt. Tut sie es nicht, wird die selbstständige Tätigkeit nicht hauptberuflich ausgeübt. Dies erfolgt im Zweifelsfall nicht schematisch, sondern im Rahmen einer Gesamtschau:

  • Sie verhindert Zufallsergebnisse in den Fällen, in denen ein geringes Zurückbleiben bei einem Kriterium mit einem deutlichen Übersteigen beim anderen Kriterium zusammentrifft.
  • Sie erlaubt die Berücksichtigung von Besonderheiten wie z.B. im Falle eines Ausbildungsverhältnisses mit entsprechend geringer Vergütung.i
  • So wird eine höhere Bewertung der wirtschaftlichen Bedeutung dieses Entgelts im Hinblick auf die angestrebte abhängige Beschäftigung im späteren Beruf möglich.

Wie kann den Belangen aller Beteiligten Rechnung getragen werden?

Durch eine vor allem verfahrenspraktisch relativ einfach durchführbare Abgrenzung nach folgenden Grundannahmen:

  • Keine hauptberuflich selbstständige Erwerbstätigkeit bei Vollschichtarbeit: Arbeitnehmern bleibt unabhängig von der Höhe des Arbeitsentgelts kein Raum für eine hauptberuflich selbstständige Erwerbstätigkeit aufgrund
    • tariflicher,
    • betriebsbedingter oder
    • arbeitsvertraglicher Regelungen
    • oder Arbeitszeit entspricht der regelmäßigen Wochenarbeitszeit vergleichbarer Vollbeschäftigter des Betriebs
  • Keine hauptberuflich selbstständige Erwerbstätigkeit wegen Wochenarbeitszeit und Monatsentgelt: Arbeitnehmer bleibt für eine hauptberuflich selbstständige Erwerbstätigkeit kein Raum, wenn er:
    • mehr als 20 Stunden wöchentlich
    • bei einem monatlichen Arbeitsentgelt von mehr als 1.697,50 Euro im Jahr 2023 arbeitet
  • hauptberuflich selbstständige Erwerbstätigkeit trotz Wochenarbeitszeit und Monatsentgelt: Arbeitnehmer übt die selbstständige Erwerbstätigkeit hauptberuflich aus, wenn er:
    • an nicht mehr als 20 Stunden wöchentlich arbeitet
    • bei einem Arbeitsentgelt von nicht mehr als 1.697,50 Euro (2023)
  • hauptberuflich selbstständige Erwerbstätigkeit als Haupteinnahmequelle: Arbeitnehmer übt eine selbstständige Tätigkeit an:
    • mehr als 30 Wochenstunden oder
    • an mehr als 20, jedoch unter 30 Wochenstunden
    • Einkommen aus dieser selbstständigen Tätigkeit ist Haupteinnahmequelle
    • Einkommen übersteigt 1.697,50 Euro monatlich (2023)

Was, wenn eine Zuordnung zu diesem Grundeinnahmen nicht möglich ist?

Lässt sich danach das deutlich überwiegende Vorliegen einer hauptberuflich selbstständigen Erwerbstätigkeit nicht eindeutig bestimmen, oder liegen Anhaltspunkte für andere Gegebenheiten vor, oder gilt es, Einwände gegen Grundannahmen zu prüfen, dann hilft in der Gesamtschau ein Vergleich von Arbeitseinkommen und Arbeitsentgelt weiter nach den Kriterien:

  • wirtschaftliche Bedeutung
  • zeitliche Aufwand der jeweiligen Erwerbstätigkeiten

Was heißt „deutliches Überwiegen“?

Das hat die Rechtsprechung bislang nicht konkret beantwortet. Nur zur Orientierung, nicht als konkrete Angabe:

  • Übersteigt die selbstständige Tätigkeit sowohl von der wirtschaftlichen Bedeutung als auch vom zeitlichen Aufwand her die übrigen Erwerbstätigkeiten um jeweils mindestens 20 Prozent, geht man im Allgemeinen von einem deutlichen Überwiegen aus.

Beispiel: Sie betreiben als Frau 2023 einen Kiosk, den Sie nur in den frühen Abendstunden für jeweils drei Stunden 17 bis 20 Uhr an sechs Wochentagen geöffnet haben. Damit erzielen Sie ein Arbeitseinkommen von durchschnittlich 1.200 Euro monatlich. Außerdem arbeiten Sie als Arbeitnehmerin in einem Personalbüro einer Baufirma wöchentlich für 25 Stunden gegen einen monatlichen Lohn von 1.800 Euro. Dann gelten Sie nicht als hauptberuflich selbstständig, weil Sie mehr als 20 Stunden wöchentlich in einer Beschäftigung stehen und Ihr Lohn mehr als 1.697,50 Euro beträgt.

Entsteht Hauptberuflichkeit schon, wenn die Entgeltzahlung ausbleibt?

Nein, jedenfalls nicht, wenn die selbstständige Tätigkeit in dieser Zeit nicht ausgeweitet wird. Eine neben einer Beschäftigung nicht hauptberuflich ausgeübte selbstständige Tätigkeit wird ansonsten nicht dadurch hauptberuflich, dass bei kurzfristiger Unterbrechung des fortdauernden Arbeitsverhältnisses oder im Fall der Elternzeit kein Arbeitsentgelt gezahlt wird.

In der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung besteht bezüglich der hauptberuflichen Selbstständigkeit keine Ausschlussregelung. Hauptberuflich Selbstständige sind in einer daneben ausgeübten und mehr als geringfügigen Beschäftigung grundsätzlich versicherungspflichtig, auch wenn keine Kranken- und Pflegeversicherungspflicht besteht.

Autor*in: Franz Höllriegel