29.06.2015

Niederspannungsrichtlinie und Maschinenrichtlinie

Die Normen EN 60204, EN 60745 und EN 61029 sowie viele Teile der EN 60335-Teil 2-xx sind sowohl unter der Niederspannungsrichtlinie als auch der Maschinenrichtlinie gelistet. Hintergrund ist die Maschinenrichtlinie, die derzeit so ausgelegt wird, dass für Maschinen im Anwendungsbereich der EG-Richtlinie 2006/42/EG die Niederspannungsrichtlinie 2014/35/EU (vorher 2006/95/EG bzw. 73/23/EWG) nicht deklariert werden sollte, auch wenn die Produkte eindeutig in deren Anwendungsbereich fallen und die Niederspannungsrichtlinie keinerlei Ausnahme vorsieht.

Die Europäische Union

Auch wenn viele elektrotechnische Normen seit Jahren als harmonisierte Normen zur Niederspannungsrichtlinie gelistet sind, sind sie im entsprechenden Normenverzeichnis zur Maschinenrichtlinie als harmonisiert deklarierte Normen aufgelistet.

Immerhin bieten viele Normen z.B. zur EN 60335-2-xy den Hinweis an, dass eine Risikobeurteilung durchgeführt wurde, die zum Ergebnis kommt, dass die Maschinenrichtlinie nicht anzuwenden ist.

Sonderfall EN-61010-Normenreihe

Ein Sonderfall ist die EN-61010-Normenreihe, die aktuell in der Norm eine Risikobeurteilung fordert, was nur dadurch verständlich ist, dass diese Norm nicht unter der Maschinenrichtlinie gelistet ist – sonst wären die dortigen Vorgaben zu beachten.

Die Richtlinien selbst sind, was den Ausdruck „hauptsächliche Risiken“ angeht bei Produkten, die in den Anwendungsbereichen der Niederspannungsrichtlinie fallen, nicht ergiebig. Die hauptsächlichen Risiken muss der Hersteller, wie im Leitfaden zur Niederspannungsrichtlinie näher erläutert, zunächst über eine Risikobeurteilung ermitteln, was in der Praxis zu Unsicherheiten bei der Zuordnung führen kann.

Einen Anhaltspunkt für die konkrete Richtlinienzuordnung seines Produkts erhält er möglicherweise durch die im EU-Amtsblatt gelisteten harmonisierten Normen, bei deren Erarbeitung das zuständige Normenkomitee die Risikobeurteilung bereits durchgeführt hat.

Was fällt ausschließlich unter die Niederspannungsrichtlinie?

Die gegenseitige Abgrenzung der Richtlinien, die bisher auf Grundlage des hauptsächlichen Risikos erfolgte, geschieht nun durch eine Liste mit sechs Produktgattungen elektrischer Maschinen, die ausschließlich unter die Niederspannungsrichtlinie fallen:

  • für den häuslichen Gebrauch bestimmte Haushaltsgeräte
  • Audio- und Videogeräte
  • informationstechnische Geräte
  • gewöhnliche Büromaschinen
  • elektrische Schalter
  • Elektromotoren

Im Gegensatz zu Haushaltsgeräten für den häuslichen Gebrauch fallen Haushaltsgeräte für den professionellen Einsatz fortan in den Anwendungsbereich der neuen Maschinenrichtlinie, sofern sie die Maschinendefinition erfüllen.

Der Länderausschusses für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) erstellt Unterlagen wie die „Leitlinien zum Geräte- und Produktsicherheitsgesetz“, aus denen wir folgende Inhalte entnehmen und etwas angepasst haben:

Ist die Anwendung von harmonisierten Normen ausreichend bei der Beurteilung eines Produkts?

Die alleinige Anwendung von harmonisierten Normen ist per se nicht ausreichend, um die Konformität eines Produkts mit den Anforderungen des § 3 Abs. 1 oder 2 ProdSG zu beurteilen. Bei der Anwendung von harmonisierten Normen ist immer sehr genau zu beachten, welche Anforderungen an das Produkt von den angewendeten Normen ganz oder teilweise abgedeckt werden und welche nicht.

Die Veröffentlichung der Fundstelle einer Norm im Amtsblatt der Europäischen Union ist noch keine Gewähr für die Vollständigkeit einer Norm. Harmonisierte Normen, die Binnenmarktrichtlinien konkretisieren, enthalten informative Anhänge, aus denen klar hervorgeht, welche grundlegenden Anforderungen der einschlägigen Richtlinien darin behandelt werden.

Der normative Teil allein ist nicht ausreichend

Sofern es in einer Norm nicht möglich ist, alle relevanten Anforderungen zu behandeln, ist eindeutig anzugeben, welche Anforderungen abgedeckt sind und welche nicht. Es ist somit nicht ausreichend, allein den normativen Teil von harmonisierten Normen zu beachten, sondern es sind alle verfügbaren Informationen hinsichtlich der Vollständigkeit von Normen beizuziehen, und es ist abzuschätzen, wie weit die Vermutungswirkung bei Anwendung der Norm tatsächlich reicht.

Um wirklich auf der sicheren Seite zu sein und damit unliebsame Überraschungen möglichst zu vermeiden, sollten Normenanwender nicht nur immer alle verfügbaren Informationen hinsichtlich der Vollständigkeit der Normen prüfen. Es sollte auch stets zusätzlich eine Risikobeurteilung durchgeführt werden, unabhängig davon, ob diese für ein Produkt von den betreffenden gesetzlichen Vorschriften gefordert wird.

Um Hinweise auf Lücken oder Einschränkungen in Normen zu erhalten, sollte der Normenanwender die Normenverzeichnisse, Decisions (Beschlüsse), Recommendations (Empfehlungen), Opinions (Stellungnahmen) oder Guides (Leitfäden) zur jeweiligen Richtlinie beachten.

Hintergrundinformation

Auf diese Sachlage wird von EU-Seite im Beschluss Nr. 768/2008/EG vom 09.07.2008 deutlich hingewiesen. Hier wird in Artikel 8 festgelegt:

„Bei Produkten, die mit harmonisierten Normen oder Teilen davon übereinstimmen, deren Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind, wird eine Konformität mit den Anforderungen vermutet, die von den betreffenden Normen oder Teilen davon abgedeckt sind.“

Alignment Package

In der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG ist dieser Sachverhalt in Art. 7 Abs. 2 bereits umgesetzt. Gemäß der im Alignment Package vorgeschlagenen Anpassung der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG wird folgender Artikel „Vermutung der Konformität mit harmonisierten Normen“ eingefügt:

„Bei elektrischen Betriebsmitteln, die mit harmonisierten Normen oder Teilen davon übereinstimmen, deren Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind, wird eine Konformität mit den Sicherheitszielen nach Artikel 3 und Anhang I vermutet, die von den betreffenden Normen oder Teilen davon abgedeckt sind.“

In der Begründung zur Anpassung der Niederspannungsrichtlinie ist diesbezüglich Folgendes angemerkt:

„Die Bestimmung, der zufolge die Einhaltung harmonisierter Normen eine Konformitätsvermutung begründet, wurde geändert, damit der Umfang dieser Konformitätsvermutung präzisiert wird, falls diese Normen nur Teile der wesentlichen Anforderungen abdecken.“

Somit erfolgt nur eine Konkretisierung der bisherigen Sichtweise und Umsetzungspraxis.

Kann die Anwendung von nationalen Normen oder technischen Spezifikationen anderer Mitgliedstaaten die Vermutung auslösen, dass dieses Produkt den Anforderungen nach § 3 Abs. 2 ProdSG entspricht?

Hier beziehen wir uns auch wieder auf LASI-Aussagen, die sagen, dass bei der Beurteilung, ob ein Produkt aus dem nicht harmonisierten Bereich den Anforderungen nach § 3 Abs. 2 ProdSG entspricht, entsprechend § 5 Abs. 1 ProdSG Normen und andere technische Spezifikationen zugrunde gelegt werden. Diese Normen und technischen Spezifikationen anderer Mitgliedstaaten können eine Vermutungswirkung auslösen. Informationen dazu liefert die Verordnung (EG) 764/2005.

Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bestätigt dies in seiner Rechtsprechung. Hierzu stellt er klar, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ein Mittel darstellt, um den freien Warenverkehr im Binnenmarkt zu gewährleisten. Er wird auf Produkte angewendet, die nicht den Harmonisierungsvorschriften der Gemeinschaft unterliegen, oder auf Produktaspekte, die nicht in den Anwendungsbereich solcher Vorschriften fallen.

Dieser o.g. Grundsatz besagt, dass ein Mitgliedstaat auf seinem Hoheitsgebiet das Bereitstellen von Produkten, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht wurden, auch dann nicht verbieten darf, wenn bei der Erzeugung dieser Produkte technische Vorschriften zur Anwendung kamen, die sich von denen unterscheiden, die bei einheimischen Produkten eingehalten werden müssen.

Ausnahmen

Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur bei Beschränkungen möglich, die ihre Rechtfertigung in Artikel 30 EG-Vertrag oder in anderen übergeordneten Gründen des Allgemeininteresses finden und die überdies in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen. Mehr dazu finden Sie in der Verordnung (EG) Nr. 764/2008.

Wie kann eine nach vernünftigem Ermessen vorhersehbare Verwendung näher beschrieben werden?

Ein Wirtschaftsakteur stellt ein Produkt auf dem Markt bereit, dessen Zweck grundsätzlich vom Hersteller bestimmt wird. Das Produkt kann aber auch zweckentfremdet, nicht bestimmungsgemäß verwendet werden. Diese vorhersehbare Verwendung des Produkts (früher: Fehlanwendung) hat der Wirtschaftsakteur unter Vernunftsgesichtspunkten zu ermitteln. Dabei handelt es sich immer um eine Einzelfallbetrachtung.

Es sind (soweit möglich) zu berücksichtigen:

  • die Besonderheiten der für das Produkt maßgeblichen Rechtsvorschriften
  • die gesellschaftliche Akzeptanz der verbleibenden Risiken
  • Erkenntnisse aus dem Unfallgeschehen und der Produktbeobachtung sowie
  • der Kenntnisstand der Verwendergruppe

Die nachfolgenden Aussagen können die tendenzielle Zuordnung eines Verhaltens zur vorhersehbaren Verwendung begründen und dienen der Orientierung:

  • Situationen, die rational begründbar sind, den üblichen Erfahrungen und dem gesunden Menschenverstand entsprechen (Beispiel: Berührung der Backofentür durch Kleinkinder).

Sofern das Produkt nicht ausdrücklich für eine besondere Verwendergruppe vorgesehen ist (z.B. für Kinder oder für Personen mit Behinderung oder für Fachkräfte), kann der Hersteller von einem „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verwender“ ausgehen (Urteil des EuGH, Az. C-210/96).

Maßstab ist nicht der „dümmste anzunehmende Verwender“!

Besser ausgedrückt wird dies durch folgende Ansätze:

  • Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass die Verwendung des Produkts in einer bestimmten Weise vom Verwender als riskant erkannt wird (Beispiel: Verkettung von Mehrfachsteckdosen führt zu einer Überhitzungsgefahr).
  • Das Risiko der Verwendung des Produkts in einer bestimmten Weise wird als solches zwar vom Verwender erkannt, aber in der Höhe unterschätzt (Beispiel: Gabelstapler – Schnellkurvenfahrt/Fahren mit angehobener Last, Kippgefahr).
  • Die Verwendung des Produkts in einer vom Hersteller nicht vorgesehenen Weise ist weit verbreitet und wird vom Verwender nicht mehr als Risiko wahrgenommen (Beispiel: Stecker wird am Kabel aus der Steckdose gezogen).
  • Die Handlung ist aus Gründen der Bequemlichkeit des Menschen zu erwarten (Weg des geringsten Widerstands) (Beispiel: Kabeltrommel wird nicht vollständig abgewickelt).
  • Verhalten im Falle einer Fehlfunktion, einer Störung oder eines Ausfalls während des Gebrauchs des Produkts (Beispiel: Beseitigung der Verstopfung am Einzugstrichter eines Gartenhäckslers).
  • Verhalten aufgrund von Unachtsamkeit oder Konzentrationsmangel (Beispiel: Verwechslung von Bedienteilen).

Zur Abwendung von Gefahren bei der vorhersehbaren Verwendung ist der Hersteller gehalten, Schutzmaßnahmen nach folgender Rangfolge zu treffen:

  1. inhärente Sicherheit
  2. technische und ergänzende Schutzmaßnahmen
  3. Benutzerinformationen

Nicht unter vorhersehbare Verwendung fallen z.B. folgende Verhaltensweisen

  • vorsätzliche Gesundheitsverletzung (z.B. Messer als Mordwaffe, Baseballschläger als Knüppel)

  • vorsätzliche Zerstörung von Produkten (Vandalismus)

  • vorsätzliches Außerkraftsetzen von Schutzeinrichtungen mit hohem Aufwand

  • Verwendung eines Produkts unter Missachtung anforderungsgerechter Benutzerinformationen

Autor*in: Jo Horstkotte