09.02.2018

Vorhersehbare Fehlanwendung

Vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung – wohlbekannt und doch ein Rätsel: „Woher soll ich wissen, was meine Kunden mit meinem Produkt anstellen?” Kommt Ihnen diese Frage bekannt vor? Man bekommt Sie regelmäßig zu hören, wenn man nach der „vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung” fragt. Aber warum fragt man überhaupt danach?

Paragraph auf EU-Flagge

Aus gutem Grund: Denn diverse Regelwerke verlangen vom Hersteller, dass er sich bereits bei der Entwicklung seines Produkts Gedanken darüber macht, wie Menschen sein Produkt außerhalb der üblichen bestimmungsgemäßen Verwendung nutzen könnten. Diese Überlegungen müssen in die Sicherheitskonstruktion des Produkts einfließen.

Was ist das Problem, wenn man das nicht tut? Dann hat der Hersteller im Worst Case ein Haftungsproblem. Kein Hersteller sollte unnötig Haftungsrisiken eingehen. Deshalb ist es wichtig, sich über die „vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung” des Produkts gründlich Gedanken zu machen.

Vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung – Was sagt das Regelwerk?

Hinweis

Dieser Abschnitt behandelt eine begrenzte Auswahl an Regelwerken mit Bezug zur vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung.

Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG)

§ 3 Fehler

(1) Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere

  1. seiner Darbietung,
  2. des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,
  3. des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde,

berechtigterweise erwartet werden kann.

§ 3 ProdHaftG knüpft zur Bestimmung des Fehlerbegriffs an die Sicherheit an, die ein Anwender oder Verbraucher bei Nutzung eines Produkts unter Berücksichtigung aller Umstände „berechtigterweise” erwarten kann.

Maßgeblich ist hier nicht die individuelle Sicherheitserwartung eines einzelnen Geschädigten. Entscheidend ist der objektive Erwartungshorizont, die Sicherheitserwartung eines durchschnittlichen Benutzers jenes Personenkreises, für den der Hersteller sein Produkt konzipiert und fertigt. Daraus folgt, dass der Hersteller bezogen auf seine Zielgruppe alle vorhersehbaren Gefährdungen und Ausnahmesituationen, die bei der Nutzung seines Produkts entstehen können, berücksichtigen muss.

Der in dem Gesetz genannte „Gebrauch, mit dem billigerweise gerechnet werden kann” drückt aus, dass es auch einen Gebrauch gibt, mit dem nicht billigerweise gerechnet werden muss. Dies bedeutet, dass der Hersteller eine unvernünftige, missbräuchliche Nutzung seines Produkts nicht berücksichtigen muss.

Produktsicherheitsgesetz (ProdSG)

§ 2 Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieses Gesetzes

(…)

28. ist vorhersehbare Verwendung die Verwendung eines Produkts in einer Weise, die von derjenigen Person, die es in den Verkehr bringt, nicht vorgesehen, jedoch nach vernünftigem Ermessen vorhersehbar ist,

§ 3 Allgemeine Anforderungen an die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt

(1) Soweit ein Produkt einer oder mehreren Rechtsverordnungen nach § 8 Absatz 1 unterliegt, darf es nur auf dem Markt bereitgestellt werden, wenn es

  1. die darin vorgesehenen Anforderungen erfüllt und
  2. die Sicherheit und Gesundheit von Personen oder sonstige in den Rechtsverordnungen nach § 8 Absatz 1 aufgeführte Rechtsgüter bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung nicht gefährdet.

(2) Ein Produkt darf, soweit es nicht Absatz 1 unterliegt, nur auf dem Markt bereitgestellt werden, wenn es bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährdet. Bei der Beurteilung, ob ein Produkt der Anforderung nach Satz 1 entspricht, sind insbesondere zu berücksichtigen:

  1. die Eigenschaften des Produkts einschließlich seiner Zusammensetzung, seine Verpackung, die Anleitungen für seinen Zusammenbau, die Installation, die Wartung und die Gebrauchsdauer,
  2. die Einwirkungen des Produkts auf andere Produkte, soweit zu erwarten ist, dass es zusammen mit anderen Produkten verwendet wird,
  3. die Aufmachung des Produkts, seine Kennzeichnung, die Warnhinweise, die Gebrauchs- und Bedienungsanleitung, die Angaben zu seiner Beseitigung sowie alle sonstigen produktbezogenen Angaben oder Informationen,
  4. die Gruppen von Verwendern, die bei der Verwendung des Produkts stärker gefährdet sind als andere.

Der verfügende Teil des Produktsicherheitsgesetzes unterscheidet zwischen bestimmungsgemäßer Verwendung und vorhersehbarer Verwendung. Der Hersteller muss bei der Auslegung des Sicherheitskonzepts für sein Produkt beide Verwendungsarten berücksichtigen.

Maschinenrichtlinie

Begriffsdefinition

Begriff Definition Fundstelle 2006/42/EG
Vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung Verwendung einer Maschine in einer laut Betriebsanleitung nicht beabsichtigten Weise, die sich jedoch aus leicht absehbarem menschlichem Verhalten ergeben kann Anhang I, Abs. 1.1.1 i)

 

Leitfaden § 172 Vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung

Der erste Schritt des im allgemeinen Grundsatz 1 beschriebenen Verfahrens der Risikobeurteilung verlangt vom Hersteller auch die vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung der Maschine zu berücksichtigen. Es kann vom Maschinenhersteller nicht erwartet werden, dass er sämtliche möglichen Fehlanwendungen der Maschine berücksichtigt. Allerdings lassen sich bestimmte Arten von Fehlanwendungen, unabhängig davon, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, aufgrund früherer Erfahrungen im Gebrauch von Maschinen des gleichen Typs oder von ähnlichen Maschinen, Unfalluntersuchungen und Kenntnis über das menschliche Verhalten vorhersagen.

Die Norm EN ISO 12100-1 nennt folgende Beispiele für mögliche Fehlanwendungen oder leicht vorhersagbare menschliche Verhaltensweisen, die berücksichtigt werden müssen:

 

  • Verlust der Kontrolle der Bedienperson über die Maschine;
  • reflexartiges Verhalten einer Person im Falle einer Fehlfunktion, eines Störfalls oder Ausfalls während des Gebrauchs der Maschine;
  • Verhalten durch Konzentrationsmangel oder Unachtsamkeit;
  • Verhalten, das bei der Bewältigung einer Aufgabe auf die Wahl des „Weges des geringsten Widerstandes” zurückzuführen ist;
  • Verhalten unter dem Druck, die Maschine unter allen Umständen in Betrieb zu halten;
  • Verhalten von bestimmten Personen wie z.B. Kindern.

Konstruktion und Bau unter Berücksichtigung der vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung

Maschinenrichtlinie

1.1.2. Grundsätze für die Integration der Sicherheit

  1. Die Maschine ist so zu konstruieren und zu bauen, dass sie ihrer Funktion gerecht wird und unter den vorgesehenen Bedingungen – aber auch unter Berücksichtigung einer vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung der Maschine – Betrieb, Einrichten und Wartung erfolgen kann, ohne dass Personen einer Gefährdung ausgesetzt sind. Die getroffenen Maßnahmen müssen darauf abzielen, Risiken während der voraussichtlichen Lebensdauer der Maschine zu beseitigen, einschließlich der Zeit, in der die Maschine transportiert, montiert, demontiert, außer Betrieb gesetzt und entsorgt wird.
  2. Bei der Wahl der angemessensten Lösungen muss der Hersteller oder sein Bevollmächtigter folgende Grundsätze anwenden, und zwar in der angegebenen Reihenfolge: Beseitigung oder Minimierung der Risiken so weit wie möglich (Integration der Sicherheit in Konstruktion und Bau der Maschine); Ergreifen der notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Risiken, die sich nicht beseitigen lassen; Unterrichtung der Benutzer über die Restrisiken aufgrund der nicht vollständigen Wirksamkeit der getroffenen Schutzmaßnahmen; Hinweis auf eine eventuell erforderliche spezielle Ausbildung oder Einarbeitung und persönliche Schutzausrüstung.
  3. Bei der Konstruktion und beim Bau der Maschine sowie bei der Ausarbeitung der Betriebsanleitung muss der Hersteller oder sein Bevollmächtigter nicht nur die bestimmungsgemäße Verwendung der Maschine, sondern auch jede vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung der Maschine in Betracht ziehen.
    Die Maschine ist so zu konstruieren und zu bauen, dass eine nicht bestimmungsgemäße Verwendung verhindert wird, falls diese ein Risiko mit sich bringt. Gegebenenfalls ist in der Betriebsanleitung auf Fehlanwendungen der Maschine hinzuweisen, die erfahrungsgemäß vorkommen können.
  4. Bei der Konstruktion und beim Bau der Maschine muss den Belastungen Rechnung getragen werden, denen das Bedienungspersonal durch die notwendige oder voraussichtliche Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen ausgesetzt ist.
  5. Die Maschine muss mit allen Spezialausrüstungen und Zubehörteilen geliefert werden, die eine wesentliche Voraussetzung dafür sind, dass die Maschine sicher eingerichtet, gewartet und betrieben werden kann.

Detailliertere Informationen zu diesem Thema finden Sie in unserem Praxismodul „Maschinenrichtlinie“.

 

Autor*in: Elisabeth Wirthmüller (ce konform GmbH. Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Technische Dokumentation.)