02.05.2023

Warum „Stuttgarter Verfahren“ nicht mehr in der GmbH-Satzung stehen sollte

„Die Abfindung eines ausscheidenden Gesellschafters wird beschränkt.“ Beschränkt würde sie nach dem „Stuttgarter Verfahren“. Haben Sie in der Satzung Ihrer GmbH eine solche oder ähnliche Klausel? Wenn ja, sollten Sie sie überarbeiten. Der Bundesfinanzhof hält sie für problematisch.

Stuttgarter Verfahren

Was genau ist das „Stuttgarter Verfahren“?

Mit ihm ermittelt man den Unternehmenswert für die Erbschaft- und Schenkungsteuer. Vom anteiligen Unternehmenswert hängt die Höhe einer GmbH-Anteilsabfindung ab. Es ist ein Mischverfahren und stellt ab auf zwei Werte:

  • Substanzwert: das betriebliche Vermögen
  • Ertragswert: die Erträge

Wo der gemeine Wert der Anteile unter Berücksichtigung des Vermögens und der Ertragsaussichten zu schätzen ist, ermittelt man ihn im Stuttgarter Verfahren. Man geht davon aus, dass der Wert eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft grundsätzlich dem Wert der Vermögenssubstanz entspricht, für einen überdurchschnittlichen Gewinn aber ein Aufschlag gezahlt werden würde. Das Stuttgarter Verfahren ist somit ein Übergewinnabgeltungsverfahren. Es war einst Standard.

Warum soll das Stuttgarter Verfahren kein Standard mehr sein?

Weil das Bundesverfassungsgericht 2006 die damaligen Bewertungsvorschriften für das Betriebsvermögen als steuerrechtlich verfassungswidrig erklärte (BVerfG, Urteil vom 07.11.2006, Az.: 1 BvL 10/02). Deswegen war die Reform der Erbschaftsteuer im Jahr 2009 erforderlich. In dessen Zuge beurteilte das BVerfG das Stuttgarter Verfahren u.a. als ungeeignet zur Ermittlung des tatsächlichen Unternehmenswerts.

Was ist an die Stelle des Stuttgarter Verfahrens getreten?

Das Ertragswertverfahren. Heutzutage zieht man ein solches zur Ermittlung des Unternehmenswerts heran insbesondere nach:

  • S1, dem ersten Standard des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. (IDW) nach den Grundsätzen zur Durchführung von Unternehmensbewertungen in der Fassung von 2008
  • Discounted Cashflow-Methode: Abzinsung der bei einer längerfristigen Unternehmensplanung ermittelten künftigen Überschüsse auf einen Bewertungsstichtag.

Bei deren Durchführung ergeben sich zutreffende Verkehrswerte für:

  • GmbHs,
  • Personengesellschaften oder
  • Einzelunternehmen.

Demgegenüber kann man im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht den Wert eines Unternehmens oder eines Unternehmensanteils mit dem vereinfachten Ertragswertverfahren ermitteln. Dabei wird der zukünftig erzielbare Jahresertrag mit dem Kapitalisierungsfaktor multipliziert (§ 199 Bewertungsgesetz, BewG).

Was ist das IDW?

Es will die Wirtschaftsprüfer in Deutschland in ihrer Arbeit unterstützen und allgemein anerkannte Standards ausarbeiten. Ziel ist es unter anderem die Besonderheiten der Bewertung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, wie der Bedeutung einzelner Personen für den Geschäftserfolg oder dem Einfluss einzelner Lieferanten und Kunden, adäquat Rechnung tragen zu können. Die veröffentlichten Standards und Vorgehensweisen bei der Bewertung von Unternehmen haben keinen rechtlich verpflichtenden Charakter. Dennoch besitzen die ausgearbeiteten Standards in Folge der Anwendung durch die Mitglieder des IDW eine hohe Bedeutung in der Praxis.

Was ist der Vorteil des IDW S1-Verfahrens?

Es ermöglicht eine Bewertung unabhängig von individuellen Charakteristika der Unternehmen. Ist beispielsweise eine gesetzliche Vorschrift Anlass für eine Unternehmensbewertung, so ist es üblich eine Bewertung anhand des Ertragswertverfahrens gemäß des der Im IDW S1 veröffentlichten Grundsätze durchzuführen. Die sieben Grundsätze sind:

  • Maßgeblichkeit des Bewertungszwecks:
    • Die Art der Ermittlung entscheidet über das Bewertungsverfahren
    • Notwendig um gewisse Annahmen im Rahmen der Bewertung treffen zu können
  • Bewertung der wirtschaftlichen Unternehmenseinheit:
    • Relevant sind die aus der Gesamtheit des Unternehmens erzielbaren finanziellen Überschüsse
    • Die Gesamtheit der im Unternehmen befindlichen Gegenstände zielen darauf ab, finanzielle Überschüsse zu erwirtschaften
    • Die sinnvolle Abgrenzung des Unternehmens ist daher notwendige Voraussetzung für eine Bewertung des Unternehmens
  • Stichtagsprinzip: Unternehmensbewertung variieren im Zeitablauf und sind als zeitpunktbezogene Größe zu einem bestimmtem Bewertungsstichtag zu ermitteln
  • Bewertung des Betriebsnotwendigen Vermögens: Generell werden die finanziellen Überschüsse ermittelt, wobei zu berücksichtigen ist, dass nur die dem Eigentümer netto zufließenden Gewinne als Basis herangezogen werden. Gewinne die zur Aufrechterhaltung der Unternehmung reinvestiert werden sind nicht relevant (Zuflussprinzip)
  • Bewertung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens
    • Als nicht betriebsnotwendiges Vermögen können alle Gegenstände angerechnet werden, die keinen bedeutenden Einfluss auf die Unternehmenstätigkeit ausüben
    • Ansatz mit dem jeweiligen Netto-Liquidationswert
  • Unbeachtlichkeit des (bilanziellen) Vorsichtsprinzip: Das Vorsichtsprinzip findet im Rahmen der Bewertung keine Anwendung, da es Eigentümer im Verhältnis zu den Gläubigern einseitig belastet
  • Nachvollziehbarkeit der Bewertungsansätze: Aufgrund der Komplexität des Vorgangs der Unternehmensbewertung, müssen die getroffenen Annahmen sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für das Bewertungsergebnis verständlich dargelegt werden

Warum gehört das Stuttgarter Verfahren nicht mehr in die Satzung?

Trotz der steuerrechtlichen Verfassungswidrigkeit ist das Stuttgarter Verfahren gesellschaftsrechtlich zulässig. Damit sind die nach diesem Verfahren ermittelten Abfindungswerte für die Gesellschafter bindend, auch wenn sie nicht den tatsächlichen Unternehmenswert enthalten. Eine Korrektur der Abfindungsbeschränkung ist nur möglich, wenn diese nach § 138 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) grob unbillig und damit nichtig wäre.

Was ist grob unbillig?

Darüber streiten sich Gesellschafter mitunter nicht unerheblich. Verlässt ein Gesellschafter die GmbH aus Gründen, die einem Ausschluss ähneln, soll eine Abfindung mit einem Abschlag von 50 Prozent vom Verkehrswert noch angemessen sein. Um Streitigkeiten unter den Gesellschaftern oder mit dem Finanzamt zu vermeiden, sollten Sie als GmbH das in einer Satzung enthaltene Stuttgarter Verfahren durch eine andere anerkannte Bewertungsmethode ersetzen. Nehmen Sie sich das Urteil des Bundesfinanzhofe (BFH) zu Herzen (BFH, Beschluss vom 14.03.2022, Az.: II B 25/21).

Worum ging es in dem Fall?

Um einen Steuerpflichtigen, der von seiner 2017 verstorbenen Mutter eine Beteiligung von 15 Prozent an einer GmbH erbte. Deren Satzung stammte aus dem Jahre 1989. Sie regelte für den Todesfall der Mutter, dass die Gesellschaft unter bestimmten Voraussetzungen den ererbten Anteil von 30 Prozent erwerben oder einziehen konnte. Bedingung im Gegenzug war: Die „Zahlung eines Abfindungsentgeltes, das dem realen Wert seines Anteils entspricht, bewertet nach den steuerrechtlichen Bewertungsrichtlinien in der jeweils gültigen Fassung (sogenannte Anteilsbewertung nach dem Stuttgarter Verfahren)“.

2018 erwarb die GmbH den Anteil des Steuerpflichtigen für 523.000 Euro. Diesen Wert hatte man nach dem Stuttgarter Verfahren ermittelt. Das Finanzamt stellte für den Anteil der Erblasserin gesondert einen Wert von 1.407.863 Euro fest und anders als der Steuerpflichtige für den GmbH-Anteil einen „gemeinen Wert“ von 703.931 Euro fest. Es verlangte vom Steuerpflichtigen die darauf anfallende Erbschaftsteuer. Dagegen wehrte sich der Pflichtige vor dem Finanzgericht (FG), aber erfolglos.

Seiner Argumentation, zur Auslegung der Satzung und zum Zweck der Abfindungsregelung sei sein Bruder zur Sachaufklärung zu hören, da dieser seinerzeit Gründungsgesellschafter war, folgte es nicht. Es ging davon aus, dass der gesellschaftsvertraglich festgelegte Abfindungsanspruch nicht unter dem nach § 12 Erbschaftsteuergesetz (ErbStG) anzusetzenden Wert liege. Bei zutreffender Auslegung der Satzung der GmbH hätte die Bewertung des Anteils und damit die Höhe des Abfindungsanspruchs nicht nach dem Stuttgarter Verfahren, sondern mit dem gemeinen Wert erfolgen müssen. Dies zeige die Bezugnahme auf den „realen“ Wert in der Satzung. Diesen abzubilden sei Ziel der aktuellen Bewertungsregeln.

Was sagte der BFH zu dieser Argumentation?

Er stellte sich auf die Seite des Finanzamts. Der Hof stellte klar, dass die Satzung der GmbH korporationsrechtlicher Natur sei. Ihre Vorschriften seien nach objektiven Gesichtspunkten einheitlich aus sich heraus auszulegen nach:

  • Wortlaut,
  • Sinn und
  • Zweck der Regelung sowie
  • ihrem systematischen Bezug zu anderen Satzungsvorschriften.

Umstände außerhalb der Satzung könnten grundsätzlich auch dann nicht herangezogen werden, wenn sie allen Mitgliedern und Organen bekannt sind. Ergäbe sich die Höhe eines Abfindungsanspruchs aus einer Satzungsregelung einer GmbH, sei diese Bestimmung demnach einheitlich aus sich heraus auszulegen. Subjektive Vorstellungen von Personen, die beim Erstellen einer solchen Klausel beteiligt waren, spielten keine Rolle.

Tatsächlich könne die Formulierung „… realen Wert …“ in der Klausel der Satzung nicht anders ausgelegt werden, als es das FG getan habe. Sie sei juristisch nicht klar, wenn sie auch nach üblichem Sprachgebrauch den gemeinen Wert meinen dürfte. Die Wendung jedoch, dass die Bewertung nach den steuerrechtlichen Bewertungsrichtlinien in der jeweils gültigen Fassung vorzunehmen sei, sei eindeutig. Sie enthalte unmissverständlich eine dynamische Verweisung. Es sei nicht eine bestimmte Bewertungsmethode zu wählen, sondern gerade diejenige, die den steuerrechtlichen Bewertungsrichtlinien zu dem Zeitpunkt entspricht, zu dem die Bewertung vorzunehmen ist. Der Klammerzusatz mit dem Hinweis auf das Stuttgarter Verfahren versteht der BFH demgegenüber nur als offenkundige Erläuterung, wie diese Bewertung zu dem Zeitpunkt vorzunehmen gewesen wäre, zu dem die Satzung entstanden ist.

Würde sich daran etwas ändern, wenn die Parteien die Klausel anders ausgelegt hätten?

Nein, sagt der BFH. Er beruft sich dabei auf § 10 Abs. 10 Satz 2 ErbStG. Dieser knüpfe ausdrücklich an den gesellschaftsvertraglich festgelegten Abfindungsanspruch, nicht an einen nach dem Erbfall abgeschlossenen abweichenden Vertrag und erst recht nicht an die tatsächlich gezahlte Abfindung an. Wie zu verfahren wäre, wenn ein Streit um den Inhalt der gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen vergleichsweise beigelegt wird, sei im Streitfall nicht erheblich.

Autor*in: Franz Höllriegel