22.06.2018

Warum sind EMV-Normen nicht perfekt?

Im typischen Industriealltag hat nahezu jeder mit der Entwicklung von Produkten Betroffene Kontakt mit technischen Spezifikationen, die in Form von Normen niedergelegt sind. Im Bereich der EMV-Normen ist dieser Kontakt sehr intensiv, da erstens der Aspekt der EMV ein horizontaler, für alle elektrischen und elektronischen Produkte relevanter und zweitens in der Regel Gegenstand der Regulierung in nahezu allen geografischen Regionen der Welt ist.

elektromagnetische Felder

Probleme und Unzulänglichkeiten bei der Anwendung von Normen

Daher ist es naheliegend, dass gerade im EMV-Bereich nahezu jeder ,Stakeholder‘ (Hersteller, Entwickler, Prüflabor, Kunde) mit der Thematik von EMV-Normen zu tun hat. Entwickler sollen beispielsweise bei der Entwicklung von Produkten die Vorgaben von Normen berücksichtigen, Hersteller sollen die Einhaltung von Normen sicherstellen, wenn sie Produkte in Verkehr bringen möchten, oder Prüflabore sollen nachweisen, dass Produkte die Anforderungen von Normen auch wirklich einhalten.

Die (möglicherweise eigenen) Erfahrungen bei der Anwendung von EMV-Normen, bzw. die Rückmeldungen von Normenanwendern zeigen oftmals Unzulänglichkeiten in den Normen auf. Einige typische Vertreter solcher Rückmeldungen mit Beispielen dafür in Klammern lauten:

  • Die in einer Prüfnorm beschriebenen Verfahren können nicht vollständig auf einen Prüfling angewandt werden
    (Beispiel: der technologische Fortschritt sorgt für „Ports”, für die noch keine Koppelnetzwerke existieren);
  • Passagen einer Norm sind nicht eindeutig
    (Beispiel: Normen enthalten Textstellen wie „wenn möglich”, „möglichst impedanzarm”; gibt es eine eindeutige Unterscheidung in Tisch- und Standgeräte?);
  • es existieren Widersprüchlichkeiten innerhalb einer Norm oder innerhalb einer Reihe von für ein Produkt zutreffenden Normen;
  • die Zuordnung eines Produkts zu einer Norm ist nicht eindeutig
    (Beispiele: Sind Spielecomputer eher Spielzeuge oder eher Computer? Werden Dunstabzugshauben vorwiegend für den Dunstabzug oder vorwiegend als Beleuchtung eingesetzt?);
  • Ein in einer Norm beschriebenes Prüfverfahren berücksichtigt nicht den neuesten Stand der Prüfmittelentwicklung
    (Beispiel: Neben den seit langem etablierten Detektorarten wie AV oder QP wurde vor einigen Jahren auch die Detektorart RMS-AV spezifiziert; diese findet jedoch kaum Niederschlag in Prüfnormen).

Diese teilweise auch eher subjektiv wahrgenommenen Unzulänglichkeiten sind einer Erwartungshaltung an den Inhalt von Normen gegenüberzustellen, die davon ausgeht, dass die in Normen beschriebenen Verfahren und aufgeführten Anforderungen im Interesse aller Stakeholder sind und ihren jeweiligen Erwartungen entsprechen. Diese Erwartungshaltung gründet sich im Wesentlichen auf der Definition des Begriffs der Norm, die besagt, dass eine Norm ein Dokument ist, das mit Konsens erstellt und von einer anerkannten Institution angenommen wurde. Eine Norm soll für die allgemeine und wiederkehrende Anwendung Regeln, Leitlinien oder Merkmale für Tätigkeiten oder deren Ergebnisse festlegen (wobei ein optimaler Ordnungsgrad in einem gegebenen Zusammenhang angestrebt wird). Allerdings umfasst oder auch vernachlässigt eine solche Erwartungshaltung eine Reihe von Ansätzen, wie beispielsweise:

  • Eine Norm, die im Wesentlichen technische Anforderungen zum Inhalt hat, sollte sich grundsätzlich über lediglich technische Argumentationen ergeben.
  • Eine Norm kann von sehr verschiedenen Anwenderkreisen wie Hersteller, Prüflabore, Zertifizierungsstellen, Behörden zur Marktüberwachung oder auch Kunden mit durchaus unterschiedlichen Intentionen herangezogen werden.
  • Eine Norm sollte in der Beschreibung ihrer Anforderungen eindeutig sein, allerdings auch eine Flexibilität hinsichtlich ihrer Anwendung auf möglicherweise noch unbekannte Produkte aufweisen.
  • Die technischen Grundlagen und Verfahren einer Norm sollten auf wissenschaftlichen Argumenten basieren; gleichzeitig sollte die Norm in ihrer Anwendung möglichst einfach und praktikabel sein.
  • Die Anwendung einer Norm wird oftmals von dem Wunsch begleitet, dass damit eine gewisse „Rechtssicherheit” bei Streitigkeiten gegeben ist. Darüber hinaus besteht auch der Wunsch nach einer einfachen Wahrheit wie „Wenn ein Gerät die Norm erfüllt hat, dann sollten in der Praxis keine Probleme beim Betrieb des Produkts auftreten”.

Trotz der obigen Definition einer Norm und vor allem aufgrund der erwähnten Aspekte der diversen Erwartungshaltungen stellt sich allerdings in der Praxis heraus, dass auch eine beispielsweise im Konsensprinzip erarbeitete Norm nicht immer den Erwartungen aller Beteiligten entspricht oder auch teilweise Unzulänglichkeiten enthält, die ihre Anwendung erschweren. Einem an der Normentstehung Unbeteiligten erscheint dies oftmals unverständlich, da die EMV-Normen im Grundsatz nur technische/physikalische Verfahren oder Anforderungen spezifizieren sollten, ein Bereich, in dem die „Wahrheitsfindung” doch relativ einfacher sein sollte als in anderen Bereichen des täglichen Lebens.

Gründe für die letztliche Veröffentlichung von solchen, mit problematischen oder unzulänglichen Passagen versehenen Normen existieren auf den unterschiedlichsten Ebenen oder in den verschiedenen Stufen eines Normentwicklungsprozesses. Hierzu gehören beispielsweise unterschiedliche Vorstellungen von Experten zu technischen Fragestellungen oder Lösungen, aber auch ganz banal unterschiedliche Interessen im Hinblick auf die in Normen zu beschreibenden Verfahren oder Spezifikationen. Weitere Einflussgrößen sind – auch wenn es letztlich nur um technische Fragestellungen geht – die unterschiedlichen Kulturen und Vorgehensweisen der bei der Normerarbeitung eingebundenen Fachexperten. Letztlich können indirekt auch regulatorische und/oder politische Motive eine Rolle spielen.

Im Folgenden wird der obige Sachverhalt direkt aus der Mitte der Normenarbeit heraus beleuchtet. Er zeigt einige Beispiele auf, wie es zu solchen Unzulänglichkeiten kommen kann. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf EMV-Normen, die auf IEC-Normen zurückgeführt werden können, da es sich bei diesen um die am häufigsten benutzten Normen im EMV-Bereich handelt. Ein großer Teil dieser Normen wird auch in regionale und nationale Normen übergeführt und darüber hinaus für die Konformitätsbewertung angewandt. Für eine solche Bewertung werden beispielsweise in der EU vorwiegend harmonisierte EN-Normen verwendet. Diese unterscheiden sich von den „Normen” nicht so sehr aufgrund technischer Gründe oder Inhalte, sondern eher aufgrund ihres Verwendungszwecks.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich die EMV-Normen in drei Arten unterscheiden lassen:

  • Normen, die Prüfmittel, wie beispielsweise Absorberhallen, Messempfänger, Antennen oder Koppelnetzwerke spezifizieren;
  • Normen, die Prüfverfahren (Messung einer elektromagnetischen Feldstärke, Prüfung der Störfestigkeit gegen elektrostatische Entladungen etc.) beschreiben;
  • Normen, die Spezifikationen für Produkte festlegen: Solche Spezifikationen können einzuhaltende Störaussendungsgrenzwerte oder Störfestigkeitspegel sein. Diese Normen verweisen bezüglich der Prüfmittel und Prüfverfahren in der Regel auf die beiden oben aufgeführten Normenarten.

Den kompletten Beitrag sowie weitere Informationen zu EMV und Normen finden Sie in unserem Produkt „Elektromagnetische Verträglichkeit“.

 

 

Autor*in: Bernd Jäkel (Dr. Bernd Jäkel ist als Technischer Leiter des EMV-Zentrums der Siemens AG, Digital Factory, tätig.)