25.05.2020

Information 4.0: Informationsmoleküle, Topics und MicroDocs

Handbücher waren gestern; isolierte Informationselemente, also Moleküle und Topics, die sich kontext- und zielgruppenabhängig automatisch zur benötigten Hilfeinformation zusammenstellen, prägen zumindest die Vision im Umfeld von Industrie 4.0.

Piktogramme

Neue Herausforderungen und die Abschaffung des Papierdokuments

Bisher werden Anleitungen meistens noch als Papierdokumente oder elektronisch als simulierte Papierdokumente (z.B. PDF) gestaltet. „Papierdokumente” meint hier Folgendes:

Papierparadigma

  • Verteilung der Informationen auf Seiten mit fester Größe, typischerweise im DIN-A4- oder mit Blick auf eine Onlineoptimierung bereits im DIN-A5-Format
  • Umsetzung des Buchparadigmas mit Deckblatt, Inhaltsverzeichnis, Einteilung der weiteren Informationen in Kapitel und Abschnitte, Rückseite, im Idealfall mit einem Stichwortverzeichnis, weil Informationen in Anleitungen oft nur über geeignete Stichworte gesucht werden
  • Unterscheidung zwischen rechten Seiten (Vorderseiten) und linken Seiten (Rückseiten), Seitenlayout mit fester Text-Bild-Anordnung

Die UX (User Experience) einer Papierdokumentation dürfte bekannt sein. Die Nutzung von gedruckten Informationen liegt quasi in unseren Genen. Als User Experience bezeichnet man übrigens die über die Gebrauchstauglichkeit (Usability) eines Produkts hinausgehend gesamte Produktwahrnehmung eines Produktanwenders, und zwar vor dem Gebrauch, während des Gebrauchs und nach dem Gebrauch des Produkts. UX betont vor allem auch emotionale Aspekte der Produktanwendung.

Paradigma der intelligenten Information

Industrie 4.0 und die Vision von miteinander kommunizierenden Geräten sowie die dazu passende Architektur, mit deren Unterstützung Hilfeinformationen kontextbezogen an einem vernetzten Display angezeigt werden, z.B. am Smartphone, das ist für die meisten Produktnutzer neu. Auch für Technik-Autoren bringt die neue Informationsgestaltung völlig neue Herausforderungen:

  • Anstelle der Gestaltung von statischen Seiten und des Kampfes um ärgerliche Seitenumbrüche (die uns ziemlich plagen konnten) werden nun isolierte, in sich abgeschlossene Topics mit potenziell beliebiger Seitenlänge geplant. Topics kennen keine übergeordnete Hierarchie, dennoch sollen alle Topics zu einem Gesamtkonzept, vergleichbar zum bisherigen Buch, angeordnet werden können.
  • Anstelle der Dokumentation von Produktfamilien werden nun gerätespezifische Informationen bereitgestellt, was eine granulare Informationsplanung erfordert.
  • Anstelle einer übergeordneten Dokumentgliederung erhalten alle Topics eine geeignete Verschlagwortung, d.h. sogenannte Metadaten wie Titel, Schlüsselbegriffe, Zuordnung zu einer Produktkomponente, Informationsart usw.
  • Anstelle einer statischen Seitensequenz auf dem Papier und im PDF sind Beziehungen zwischen Topics über redaktionell definierte Browsersequenzen und Querverweise in Form von Hyperlinks dargestellt.
  • Anstelle des Use Case „Suchen und Blättern im Buch” müssen nun Medienkonzepte berücksichtigt werden, die eine multimediale Informationsnutzung durch einen Anwender auf völlig neue Art ermöglichen: seien es Google-gleiche Suchmechanismen, Aufklappinformationen nach dem Prinzip des „Progressive Disclosure” (also je nach Informationsbedarf werden weitere Unterpunkte geöffnet), die unterschiedliche Sinnansprache über Text, Bild, Animationsvideo und Ton bis zur Frage, wo und wie die Informationen abgelegt werden sollen.
  • Anstelle der einmaligen Auslieferung eines PDFs oder einer Papierdokumentation muss nun ein Logistikkonzept eingeplant werden, das einen permanenten Updateprozess erlaubt. Für manche Unternehmen ist die leicht zugreifbare PDF-Dokumentation auf der Website bereits eine Herausforderung, „smarte Geräte”, d.h. Geräte mit laufend erweiterbarer Funktionalität und Steuerungen über Software-User-Interfaces verlangen mehr: ein Dokumentationskonzept, das gleichsam „smart” ist, also laufend erweiterbar, an unterschiedliche Benutzeranforderungen anpassbar usw. Die Dokumentation unterliegt als Software, die in die Produkte integriert ist, den gleichen Usability- und User-Experience-Kriterien wie die Produkte selbst.

Topics, Moleküle und Topic-/Molekül-Cluster

Topics sind die neuen Informationseinheiten, die jeweils in sich abgeschlossen sind und dem Anwender eine Antwort auf eine bestimmte Frage liefern. Dahinter liegt auch das Verständnis, dass Anwender sich nicht für Anleitungshefte oder -bücher als Ganzes interessieren, sondern für Antworten auf Fragen, die Anwender bei der Produktnutzung haben.

Und weil verschiedene Produktnutzer eventuell eine unterschiedliche Antworttiefe zur gleichen Frage benötigen und weil es unterschiedliche Nutzungskontexte geben kann, müssen Topics noch differenzierter betrachtet werden. Topics müssen kleiner gefasst werden und granularer in „Moleküle” (Gollner/Houser/Gallon, siehe Weblinks) aufgebrochen werden. Nun kann man Moleküle als eine neue Interpretation der bekannten Modularisierung verstehen, allerdings ist der Fokus beim „Molekülbegriff” immer die Sicht eines Anwenders und nicht die Mehrfachverwendbarkeit von Informationen als Module, d.h. als „Produktionsbausteine”.

In den letzten Jahren wurde unter dem Stichwort der Modularisierung für Autoren das klassische Buchparadigma bereits aufgehoben, ohne allerdings aus Nutzersicht einen neuen Dokumentationsansatz zu bieten. Tatsächlich wurde meist auch mit Redaktionssystemen lediglich eine papierorientierte Dokumentation erstellt. Mit DITA (Darwin Information Typing Architecture), der XML-Architektur aus den USA, verbreitet sich allerdings zunehmend ein Konzept, das mit der Informationstypisierung von Topics sogar Eingang in die aktuelle Weltnorm für Technik-Dokumentation 82079-1:2019 gefunden hat.

Entsprechend DITA und der Norm 82079 lassen sich alle Informationen durch eine der drei Informationsarten typisieren:

  • Concept (Konzept), z.B. Erklärung einer Funktion, Prinzip „Lexikon”
  • Task (Aufgabe, Handlungen), Vorgehen zur Funktionsanwendung, um eine Aufgabe zu erfüllen, Prinzip „Kurzanleitung”
  • Reference (Nachschlagedetails), ergänzende Details als Tabelle oder Liste, die man bei Bedarf nachschlägt, Prinzip „Telefonbuch”

Kochbuchrezepte als Vorbild?

Die Kritik an DITA (stellvertretend Mark Baker, siehe Weblinks) zeigt, dass zwar in den letzten Jahren einerseits die Aufteilung in Moleküle/Module/Topics vorangeschritten ist, aber andererseits kein generelles Vorgehenskonzept der sinnvollen Informationszusammenstellung aus Anwendersicht existiert. DITA-Topics mit ihrer strikten Separierung in Concept-, Task- und Reference-Topics seien gerade nicht als sinnvolle Einheit für einen Anwender geeignet, so Mark Baker.

Gleich einem Rezept aus einem Kochbuch setze sich ein sinnvolles Topic aus Anwendersicht gerade aus allen drei Aspekten (Konzept, Aufgabe und Referenz) zusammen.

Könnte ein Mix gefragt sein?

Auch Alan Houser erkennt, dass für ein umfassendes Verständnis für ein technisches Produkt auch Informationen nötig sein können, die über einfache Anweisungen hinausgehen. Er fordert einen Mix aus Anweisungen, Überblicksinformationen, Tutorials sowie nachschlageorientierten Referenzinformationen, etwa die Liste aller Funktionen, Liste aller Bedienelemente usw.

Weitere detaillierte Informationen zu diesem spannenden Thema finden Sie in unserem Produkt „Technische Dokumentation“.

 

 

 

Autor*in: Dieter Gust (Senior Consultant und Leiter Forschung und Entwicklung bei der itl AG)