29.06.2021

Schiene doch kein Auslaufmodell für Transport?

Totgesagte leben länger. Den Privatisierungswahn der 90er und Nullerjahre drohte Transportträger Schiene zum Opfer zu fallen. Doch die Rosinenpicker fanden am Bahndamm offenbar kein Auskommen. Viele einst stillgelegte Bahnkilometer feiern daher jetzt fröhliche Urständ.

Schiene Transport

Bahnabwrackaktion von 1994

Seit der Bahnabwrackaktion, genannt Bahnreform von 1994 wurden in Deutschland über 3.600 km Strecken des Schienenpersonennahverkehrs aufs Abstellgleis zum Alteisen verschoben. Doch mit dem neuen Jahrtausend hob auch hier ein Wind von einer anderen Seite an: 933 Kilometer Schienentrassen des Personenverkehrs wurden in Deutschland in den vergangenen 26 Jahren reaktiviert. Das hat das Verkehrsbündnis „Allianz pro Schiene“ errechnet. Die Deutsche Bahn (DB) stellte ihre Pläne am 22. Juni 2021  auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den Branchenverbänden Allianz pro Schiene und dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in Berlin vor.

Comeback der Schiene?
Comeback der Schiene?

Der Saldo fällt für 1994 bis 2020 damit negativ aus, wie „statista“ zu seiner Grafik schreibt. Vor allem in ländlichen und dünn besiedelten Regionen hat die DB seit den 1990er Jahren zunehmend Strecken aufgegeben. Diese seien unrentabel und könnten deswegen nicht weiter betrieben werden, argumentierte die Bahn. Die DB will 20 Strecken mit einer Länge von 245 Kilometern für den Bahnbetrieb reaktivieren. Zuvor hatte die DB Netz im Dezember 2019 bekanntgegeben, künftig keine Streckeninfrastruktur mehr stilllegen zu wollen. Bei den zu reaktivierenden Strecken handelt es sich um einen ersten Teil zuvor stillgelegter Trassen, auf denen künftig wieder Personen- oder Güterverkehr stattfinden soll.

Streckenportfolio mit insgesamt rund 1.300 Kilometern

Ein Expertenteam der DB hatte laut „lok-report“ in den vergangenen Monaten ein Streckenportfolio in ganz Deutschland mit insgesamt rund 1.300 Kilometern Länge ermittelt, für das verkehrliches Potenzial besteht. Bei einem Großteil lohnt sich bei Abwägung von Kosten und Nutzen die Wiederinbetriebnahme. Wie die Grafik von „statista“ zeigt, sind die die in den ostdeutschen Bundesländern und in Schleswig-Holstein reaktivierten Trassen in Relation zur Landesfläche vergleichsweise kurz. Die politischen Parteien fordern, die Reaktivierung von Schienentrassen voranzutreiben.

Wiederaufnahme des werktäglichen Personenverkehrs

Reaktivierung der Strecken bedeutet gemäß „Allianz pro Schiene“ die Wiederaufnahme des werktäglichen Personenverkehrs. Dabei könne die Schieneninfrastruktur noch betriebsbereit gewesen sein. Seit der Bahnreform Mitte der 1990er Jahre sind die Bundesländer für die Organisation des Schienenpersonennahverkehrs zuständig. Sie beziehungsweise die Aufgabenträger entscheiden, wo und in welchem Umfang Regionalverkehr auf der Schiene stattfindet und wo er eingestellt wird. Die DB berät bei Machbarkeitsstudien und Planung – auch bei der Wiederbelebung von Strecken, die anderen gehören. Diese machen knapp zwei Drittel der identifizierten Strecken aus.

Henke: Schritt in Erschließung der Fläche

Martin Henke, VDV-Geschäftsführer Eisenbahn sieht in der Entscheidung der DB AG, nach Jahrzehnten des Rückzuges wieder einen Schritt in die Erschließung der Fläche und damit in die Expansion des Netzes zu gehen, einen historischen Schritt. Die Bundesregierung habe dafür mit dem neuen Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz gute Bedingungen geschaffen. Nun müsse sie die veralteten Bedingungen der „Standardisierten Bewertung“ solcher Projekte anpassen, zitiert „lok-report“ Henke.

Flege: Comeback der Schiene

Dirk Flege, Geschäftsführer Allianz pro Schiene, bewertet die Reaktivierung stillgelegter Strecken ähnlich. Sie stehe für das Comeback der Schiene in der Fläche und damit für einen klimafreundlicheren Verkehrsmix. Er fordert von der nächsten Bundesregierung, die Hürden für weitere Reaktivierungen zu senken. Die bisherigen Bewertungskriterien ignorieren seiner Ansicht nach die sozialen Aspekte einer Schienenanbindung. Sie berücksichtigten zu wenig die Umweltvorteile des Schienenverkehrs, so Flege.

Bergmann: Versprochen ist versprochen

Jens Bergmann, Vorstand Infrastrukturplanung und -projekte der DB Netz, gibt das Ziel aus:

  • mehr Menschen für die Bahn gewinnen,
  • mehr Güter auf die Schiene bringen,
  • jeder Kilometer Gleis aktiver Klimaschutz.

Gemeinsam mit den Ländern und Aufgabenträgern wolle man stillgelegte Strecken zu neuem Leben erwecken.

Bergmann: „Bundesweit gehen wir zunächst 20 Strecken an, in den kommenden Jahren folgen weitere Verbindungen. Versprochen, gehalten.“
Er hat sich wohl versprochen; es müsste eigentlich heißen: entweder Versprechen gehalten, oder Versprochen ist versprochen.

Autor*in: Friedrich Oehlerking (Freier Journalist und Experte für Einkauf, Logistik und Transport)