29.06.2022

Fit für 55: So sollen die neuen EU-Klimaziele erreicht werden

Der gesamte Straßenverkehr unter einem einzigen System für den Emissionshandel – so die Vorstellung der EU-Kommission für ihr „Fit für 55“-Zukunftskonzept. Wenn Politik auf Realität trifft – des EU-Parlaments! Das möchte dem nämlich zunächst nur Wirtschaftsverkehr unterwerfen.

Fit für 55

Fit für 55: ab 2035 zugelassene Neuwagen emissionsfrei

Eigentlich wollte die Europäische Kommission den gesamten Straßenverkehr in ein separates EU-Emissionshandelssystem (EHS) als Bestandteil des Legislativpaket der Europäischen Kommission „Fit-for-55“ vom 14. Juli 2021 einbeziehen. Das Paket sieht konkrete Maßnahmen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2050 und der Senkung der Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent statt bisher 40 Prozent im Vergleich zu 1990 vor. In den insgesamt zwölf Legislativvorschlägen des Pakets werden Maßnahmen festgelegt, mit denen die neuen EU-Klimaziele erreicht werden sollen.

Um gegen die zunehmenden Emissionen aus dem Straßenverkehr vorzugehen, schlägt „Fit für 55“ eine Kombination von Maßnahmen vor, die den Emissionshandel ergänzen. Strengere CO2-Emissionsnormen für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge sollen den Übergang zur emissionsfreien Mobilität beschleunigen, da die durchschnittlichen jährlichen Emissionen neuer Fahrzeuge ab 2030 55 Prozent und ab 2035 100 Prozent niedriger sein müssen als 2021.

Der Plan sieht im Ergebnis vor, dass alle ab 2035 zugelassenen Neuwagen emissionsfrei sein werden. Damit Fahrzeuge in einem verlässlichen EU-weiten Netz aufgeladen oder aufgetankt werden können, schreibt die überarbeitete Verordnung über Infrastruktur für alternative Kraftstoffe vor, dass die Mitgliedstaaten die Ladekapazität nach Maßgabe der Absatzmengen emissionsfreier Fahrzeuge ausbauen und entlang der großen Verkehrsstraßen in regelmäßigen Abständen Tank- und Ladestationen installieren, und zwar alle 60 km für das Aufladen elektrischer Fahrzeuge und alle 150 km für die Betankung mit Wasserstoff.

In konkreten Zahlen schlägt die EU-Kommission für PKW Folgendes vor:

  • 2025: 300 kW-Ladesäuleninfrastruktur im Abstand von 60 km
  • 2035: 600 kW-Ladesäuleninfrastruktur im Abstand von 60 km

Für E-LKW schlägt die EU-Kommission vor:

  • 2025: 1.400 kW im Abstand von 60 km
  • 2030: 3.500 kW im Abstand von 60 km

Insgesamt plant die EU bis 2030 zwei Millionen Ladestationen zu errichten.

Energieverbrauch runter, Emissionen runter, Energiearmut runter

Um den Energieverbrauch insgesamt zu senken, Emissionen zu verringern und Energiearmut zu bekämpfen, sieht die Energieeffizienz-Richtlinie ein ehrgeizigeres verbindliches Jahresziel für die Senkung des Energieverbrauchs auf der EU-Ebene vor. Die Energieeffizienz-Richtlinie diene als Richtschnur für die Festlegung der nationalen Beiträge und erhöht die jährliche Energieeinsparverpflichtung der Mitgliedstaaten auf fast das Doppelte. Der öffentliche Sektor müsse jährlich drei Prozent seines Gebäudebestands renovieren, damit die Renovierungswelle vorankommt, Arbeitsplätze geschaffen werden und der Energieverbrauch und die Kosten für den Steuerzahler sinken.

EU-Parlament will Sonderbehandlung für privaten Verkehr

Doch nun fordert eine Mehrheit im EU-Parlament lediglich eine Einbeziehung des gewerblichen Straßenverkehrs in das EHS. Private Mobilität soll demnach bis 2029 vom Handelssystem solange ausgeschlossen sein, bis ein neuer Legislativvorschlag vorliege. Damit aber stößt die Parlamentsmehrheit auf den Widerstand des betroffenen gewerblichen Straßenverkehrs.

An Tankstellen könne nicht unterschieden werden, ob ein Fahrzeug für private oder gewerbliche Zwecke tanke, argumentiert in einer Mitteilung an die Presse der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung e.V. (BGL). Die Forderung des Parlamentes verlagere die Verantwortung für den Handel und die Überwachung der CO2-Quoten vom Mineralölunternehmen weg. Dies könne schwerwiegende Auswirkungen haben:

  • die Mineralölunternehmen verfügen über die relevanten Kraftstoffauslieferungsdaten
  • sie hätten die Möglichkeit, den Verbrauch der von ihnen vertriebenen Kraftstoffe zu überwachen
  • die Verantwortung für die Abwicklung der CO2-Notierungen würde direkt bei den Transportunternehmen landen.

BGL: „Das muss vermieden werden.“

NLA: Vorschlag wieder auf Kurs bringen

Erik Østergaard, Präsident der Nordic Logistics Association (NLA): „Das ist keineswegs der richtige Ansatz. Wir müssen konsequent sein, wenn wir es mit dem grünen Übergang des Verkehrssektors ernst meinen. Zunächst einmal müssen alle Akteure – private und kommerzielle – ihren Teil dazu beitragen.“ Die vielen kleinen und mittleren Transportunternehmen hätten weder die Zeit noch die Ressourcen, um ein komplexes Quotensystem zu managen. Man ermutige die EU-Mitgliedstaaten daher nachdrücklich, den Vorschlag wieder auf den richtigen Kurs zu bringen und sicherzustellen, dass alle Akteure des Straßenverkehrs – gewerbliche und private – im neuen EHS berücksichtigt werden, so Østergaard.

FNTR: Kraftstofflieferanten in der Pflicht

Florence Berthelot, Generaldelegierte der Fédération Nationale des Transports Routiers (FNTR): „Die Einbeziehung des Straßenverkehrs in das EU-EHS sollte durch die Kraftstofflieferanten erfolgen, die für CO2-Zertifikate bezahlen und diese Kosten dann an die Straßenverkehrsnutzer weitergeben.“ Der Transportsektor werde nicht in der Lage sein, eine zusätzliche Last zu tragen, insbesondere in schwierigen wirtschaftlichen Situationen mit Inflation und steigenden Dieselpreisen.

Prof. Dr. Dirk Engelhardt, BGL-Vorstandsvorsitzender, warnt vor einer zeitlichen Verzögerung für den grünen Übergang. „Wenn man den Individualverkehr vom ETS ausschließt, wird es im Wesentlichen mehr Zeit in Anspruch nehmen, den grünen Übergang zu realisieren“, meint er. Mit weniger Einnahmen im ETS-System gebe es zudem weniger finanzielle Mittel, welche in grüne Lösungen reinvestiert werden könnten. Mit dem Vorschlag des Parlaments würden die Transportunternehmen grundsätzlich aufgefordert, alle Kosten zu tragen.

Engelhardt: „Deshalb fordern wir, dass die Einnahmen aus dem neuen ETS-System zweckgebunden werden.“ Der grüne Übergang müsse sich an der tatsächlichen Marktverfügbarkeit alternativer Antriebe und Kraftstoffe sowie der dafür notwendigen Infrastruktur orientieren. Anreizsysteme leben seiner Ansicht nach von ihrer Akzeptanz. Das dürfe zu keinem Bestrafungssystem infolge der Nichtverfügbarkeit alternativer Technologien führen. Engelhardt: „Nur so kann der grüne Übergang erfolgreich umgesetzt werden.“

Auch von der Luftverkehrsbranche kommt Gegenwind gegen das Fit-für-55-Programm. Airlines, Flughäfen und Gewerkschaften sehen die Gefahr, dass das Luftdrehkreuz Europa dem Klimaschutz „Fit für 55“ geopfert werden soll. Näheres dazu und wie die Logistikbranche zu dem Programm stellt in unserem Beitrag „Airlines fürchten dramatischen Verlust von Arbeitsplätzen“.

Innovationsfonds und Modernisierungsfonds aufstocken

Am 14. Juli 2021 hat die Europäische Kommission das Fit-for-55-Paket vorgestellt, das konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Klimaneutralität bis 2050 und zur Erreichung der Klimaziele für 2030 vorsieht. Durch das EU-Emissionshandelssystem (EU-EHS) wird CO2 bepreist. Um die fehlenden Emissionsreduktionen im Straßenverkehr und im Gebäudesektor anzugehen, wird laut „Fit für 55“ ein separates neues Emissionshandelssystem für die Treib- und Brennstoffversorgung in diesen Sektoren eingeführt. Die Kommission schlägt dafür vor, den Innovationsfonds und den Modernisierungsfonds aufzustocken. Um die erheblichen Klimaausgaben des EU-Haushalts zu ergänzen, sollten ihren Vorstellungen zufolge die Mitgliedstaaten die Gesamtheit ihrer Einnahmen aus dem Emissionshandel für klima- und energiebezogene Projekte bereitstellen.

Innovation, Wirtschaftswachstum, neue Arbeitsplätze

Ein bestimmter Teil der Einnahmen aus dem neuen Emissionshandelssystem für den Straßenverkehr und den Gebäudesektor sollte zur Abfederung etwaiger sozialer Auswirkungen auf sozial schwächere Privathaushalte, Kleinstunternehmen und Verkehrsteilnehmer vorgesehen werden. Außerdem sieht „Fit für 55“ vor, die durch die CO2-Bepreisung erzielten Einnahmen wieder in Innovation, Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze zu investieren. Aus einem neuen Klima-Sozialfonds sollen die Mitgliedstaaten dann eigens Mittel erhalten, die sie den Bürgern gewähren können für Investitionen in:

  • Energieeffizienz,
  • neue Heiz- und Kühlsysteme
  • sauberere Mobilität.

Schmutz von Flugzeugen und Schiffen

Flug- und Schiffstreibstoffe verschmutzen die Umwelt erheblich. Sie will „Fit für 55“ ebenfalls gezielt angehen, um den Emissionshandel zu ergänzen, so die EU-Kommission im „Fit for 55“-Programm der Plattform „energy-experten“ zufolge. Gemäß der Verordnung über die Infrastruktur für alternative Kraftstoffe müssen Flugzeuge und Schiffe in großen Häfen und Flughäfen Zugang zu sauberem Strom haben. Im Rahmen der Initiative „ReFuelEU Aviation“ werden Kraftstoffanbieter verpflichtet, dem an Flughäfen in der EU angebotenen Turbinenkraftstoff nach und nach mehr nachhaltige Flugkraftstoffe beizumischen, einschließlich synthetischer CO2-armer Kraftstoffe, die E-Fuels genannt werden.

Die Initiative „FuelEU Maritime“ soll ihrerseits die Nutzung nachhaltiger Schiffskraftstoffe und emissionsfreier Technologien fördern im Wege einer Obergrenze für den Treibhausgasgehalt des Energieverbrauchs von Schiffen, die europäische Häfen anlaufen.

Schutz für den Binnenmarkt für Energieerzeugnisse

Das Besteuerungssystem für Energieerzeugnisse muss den Binnenmarkt schützen und verbessern und den grünen Wandel fördern, indem die richtigen Anreize gegeben werden, so die EU Kommission. Der „Fit für 55“-Vorschlag für die überarbeitete Energiebesteuerungsrichtlinie sieht dementsprechend vor, dass die Besteuerung von Energieerzeugnissen auf die Energie- und Klimapolitik der EU abgestimmt wird. So hofft man, saubere Technologien zu fördern und überholte Steuerbefreiungen und ermäßigte Steuersätze abzuschaffen, die zurzeit die Nutzung fossiler Brennstoffe fördern. Durch die neuen Regeln sollen die schädlichen Auswirkungen des Energiesteuerwettbewerbs verringert und den Mitgliedstaaten zu Einnahmen aus Ökosteuern verholfen werden, die „dem Wachstum abträglich sind als Steuern auf den Faktor Arbeit“.

Fit für 55 vs. EU-Grüner Deal

Im europäischen Grünen Deal, den die Kommission am 11. Dezember 2019 vorgestellt hat, ist das Ziel festgelegt, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Mit dem Europäischen Klimagesetz wurden die Selbstverpflichtung der EU zur Klimaneutralität und das Etappenziel, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken, in bindendes Recht umgesetzt. Das Ziel, das sich die EU gesteckt hat, um die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken, wurde dem Sekretariat des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) im Dezember 2020 als Beitrag der EU zur Verwirklichung der Ziele des Übereinkommens von Paris mitgeteilt.

Autor*in: Friedrich Oehlerking (Freier Journalist und Experte für Einkauf, Logistik und Transport)