Energienotstand: Industrie legt lahm, wandert aus, verkauft Gas
„Neues Geschäftsmodell“: Produktion lohnt sich nicht mehr, aber am Gasverkauf wird verdient – jedenfalls solange langfristige Lieferverträge noch billiges Gas gewährleisten. Folge: Wertschöpfungsketten sind zerstört, Unternehmen wandern ins Ausland. Die BWA schlägt Alarm.

Langfristige Versorgungsverträge
Firmen haben langfristige Versorgungsverträge. Mit diesen kaufen sie Gas nach wie vor günstig ein. Viele mittelständische Industriebetriebe haben die Produktion eingestellt und verdienen gutes Geld mit dem Gasverkauf. Das hat die Bonner Wirtschafts-Akademie (BWA) bei Stichproben festgestellt. BWA-Geschäftsführer Harald Müller erklärt in einer Mitteilung an die Presse das „neue Geschäftsmodell“: Statt das billige Gas für die Produktion zu verwenden, verkauften die Unternehmen es an andere Betriebe weiter – „mit immenser Gewinnmarge“. Folgen:
- Die eigene Fertigung liege in dieser Zeit einfach brach,
- die Belegschaft schickten die Unternehmen nach Hause.
Das klinge auf den ersten Blick absurd, sei „aber betriebswirtschaftlich für diese Unternehmen angesichts der aktuellen Lage am Energiemarkt äußerst sinnvoll“, so Müller.
Consulting, Coaching, Careers
Die BWA Akademie ist seit über 25 Jahren unter der Geschäftsführung Müllers und von Astrid Orthmann und dem Motto Consulting, Coaching, Careers tätig als Spezialist für
- Personalentwicklung,
- Outplacement,
- Personalberatung und Training sowie
- für Arbeitsmarktprogramme wie Beschäftigtentransfer.
Die BWA versteht sich dabei als neutraler Vermittler zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zum Vorteil der Arbeitnehmer. Mit Hilfe der BWA hätten mehr als zehntausend Arbeitnehmer eine neue berufliche Zukunft gefunden, heißt es in einer Mitteilung der Akademie. Das Spektrum reicht demnach von der Begleitung von Change-Management-Prozessen über Vermittlung und Coaching von Führungskräften bis hin zur Unterstützung bei der Gründung eines eigenen Unternehmens.
Betriebswirtschaftlich sinnvoll, volkswirtschaftlich eine Katastrophe
„Was für die von der Energiekrise betroffenen Unternehmen sinnvoll ist, sofern sie langfristige Lieferverträge besitzen, stellt allerdings volkswirtschaftlich eine nationale Katastrophe dar“, gibt Müller zu bedenken. Seine Befürchtungen:
- Eine zunehmende Knappheit an Gütern aller Art trete durch die stillgelegte Produktion ein.
- Eine Verschärfung der Versorgungslage: sie treibe die Inflation an.
- Auswirkungen auf vor- und nachgelagerte Firmen: unmittelbar betroffen sind alle in der Wertschöpfungskette des Unternehmens beteiligte Unternehmen, wenn die Produktion eingestellt wird.
„Das eine Unternehmen verdient zwar gut an der Gasmarge, aber die Zulieferer und Abnehmer müssen möglicherweise Insolvenz anmelden, weil ein wichtiges Glied in der Kette, die Fertigung, über Wochen oder gar Monate hinweg ausfällt“, zeigt Müller die Zusammenhänge auf.
Kein Vorwurf an Industriebetriebe
Den Industriebetrieben könne man dennoch keinen Vorwurf machen, lieber die eigene Firma, statt die gesamte Wirtschaft über die Krise retten zu wollen. „Unternehmen, die sich diesem neuen auf den ersten Blick absurden Geschäftsmodell entziehen oder schlichtweg nicht vorausschauend genug waren, sich durch langfristige Verträge mit billigem Gas einzudecken, stehen vor dem Konkurs; erste Beispiele hierfür gibt es bereits“, sagt Müller. Allerdings warnt der BWA-Chef, die Sache gehe betriebswirtschaftlich nur solange gut, wie die Gasversorgungsverträge tatsächlich erfüllt werden. „Sobald kein Gas mehr ankommt, platzt die Blase“, prophezeit Müller.
Müller: „Politik ahnungslos.“
In der Politik seien diese Zusammenhänge häufig gar nicht bekannt. Das will Müller in politischen Gesprächsrunden festgestellt haben. Er wundert sich, dass Ministerien sogar noch die vermeintlichen Einsparungen an Energiekosten feierten, ohne zu wissen, dass diese häufig schlichtweg aus der Stilllegung von Produktionsanlagen kommen. Müller verweist auf Analysen, denen zufolge die deutsche Industrie den Energieverbrauch etwa um ein Viertel reduziert habe. „Doch etwa die Hälfte davon resultiert aus Produktionsstilllegungen“, kann Müller nur unterstreichen.
„Die mittelständische Industrie stellt ein Herzstück der deutschen Wirtschaft dar“, gibt der BWA-Geschäftsführer zu bedenken. Er befürchtet:
„Wenn die Produktion stillsteht, fallen viele Wertschöpfungsketten weg und viele Betriebe entlang dieser Ketten werden in die Insolvenz getrieben. Damit steht der industrielle Kern Deutschlands auf der Kippe.“
Chemische Industrie besonders betroffen
Die explodierenden Energiepreise drücken immer mehr deutsche Unternehmen an die Wand. Wer kein Heil im Gasverkauf findet oder finden kann, sucht nach anderen Möglichkeiten, es zu retten. Eine Industrie, die besonders unter den Wirtschaftssanktionen leidet, ist die chemische Industrie. 99 Prozent der Unternehmen in der Branche sind auf Gas als Grundstoff und nicht nur als Wärmelieferant angewiesen. Das berichtet „The Pioneer“ und beruft sich dabei auf Christian Kullmann, Chef des Verbands der Chemischen Industrie (VCI).
Er vertritt damit die wirtschaftspolitischen Interessen der Chemie- und Pharmaunternehmen in Deutschland. Zudem ist er seit Mai 2017 Vorstandsvorsitzender des börsennotierten Unternehmens Evonik Industries AG, das sich mit Spezialchemie befasst. Im Pioneer-Podcast-Gespräch schlägt Kullmann Alarm: „Ich denke, dass mindestens ein bis zwei Drittel der chemischen Industrie akut gefährdet sind.“ Kullmann meint damit 1900 Unternehmen mit „über 500.000 wirklich gut und attraktiv bezahlten Arbeitsplätzen“. Auch Kullmann sieht die Schuld bei der Politik. „Unsere Politiker haben falsche Entscheidungen getroffen“, so der Chemie-Boss.
Energieverlierer Baustoffindustrie
Ein weiterer Großverlierer der Energiekrise ist die Baustoffindustrie. Die Aussicht auf die Zusatzkosten in Milliardenhöhe und mögliche Werksschließungen vergrault laut „Manager Magazin“ die Anleger. Die Aktien des Baustoffkonzernes Heidelberg Materials fielen um 1,5 Prozent und seien damit zweitgrößter Dax-Verlierer.
Der Baustoffkonzern warnt laut dem Bericht des Magazins vor Werksschließungen in Deutschland, falls die Energiepreise dauerhaft so hoch bleiben.
„Wenn der Strompreis nachhaltig nicht runterkommt, dann ist es schon so, dass wir auch in Deutschland das eine oder andere Werk komplett vom Netz nehmen würden. Darauf haben wir uns vorbereitet“, zitiert das Blatt Konzernchef Dominik von Achten.
Er fordere eine zeitweise Deckelung der Gas- und Energiepreise, um der gegenwärtigen „Mega-Spekulation“ zu begegnen. Finanzchef Rene Aldach sagte laut dem Magazin, das Unternehmen rechne im laufenden Jahr mit einer Milliarde Euro an zusätzlichen Energiekosten. Im vergangenen Jahr habe der bisher als HeidelbergCement bekannte Konzern 2,1 Milliarden Euro für Energie ausgegeben. Heidelberg Materials ist mit mehr als 51.000 Beschäftigten in über 50 Ländern nach eigenen Angaben einer der weltweit größten integrierten Hersteller von Baustoffen und -lösungen und Marktführer bei Zement, Zuschlagstoffen und Transportbeton. Die Produkte und Dienstleistungen werden beim Bau von Häusern, Infrastruktur, Gewerbe- und Industrieanlagen eingesetzt.
Als größter deutscher Zementkonzern muss das Unternehmen den grünen Umbau vorantreiben. Die Zementindustrie verursacht weltweit rund acht Prozent aller Kohlendioxidemissionen. Nachhaltigkeit-Vorständin Nicola Kimm will laut „Manager Magazin“ den Konzern künftig zum Vorreiter bei der Weiterentwicklung von Technologien zur Abscheidung, Nutzung und Einlagerung von Kohlenstoff (Carbon Capture, Utilisation and Storage, CCUS) machen.
Zuvor hatte bereits der Mannheimer Biosprit-Hersteller Cropenergies angekündigt, die Stilllegung von Anlagen zu prüfen. Düngemittel- und AdBlue-Großproduzent SKW hatte eine Anlage kürzlich für rund drei Wochen stillgelegt und auch der zweitgrößte Stahlhersteller der Welt ArcelorMittal hatte Anfang September wegen der hohen Energiepreise an mehreren Standorten teilweise den Betrieb eingestellt.
Cui bono – Wem nützt es?
Kriminalisten stellen zur Aufklärung eines Falles zunächst die Frage: „Cui bono – wem nützt es?“ Als einen großen Gewinner aus der europäischen Energiekrise macht das „Wall Street Journal“ (WSJ) die US-Wirtschaft aus:
- Der Ukraine-Krieg treibe die europäischen Energiekosten in die Höhe.
- Dies locke eine Reihe europäischer Hersteller in die relative Stabilität der Vereinigten Staaten.
Im Allgemeinen handele es sich um energieintensive Unternehmen, die dazu neigen, Erdgas für intensive Erwärmung zu verwenden, um ihre Produkte herzustellen. Die WSJ-Journalisten Luke Vargas und David Uberti nennen als Beispiel Düngemittel, die von Landwirten und landwirtschaftlichen Betrieben verwendet werden. Es gebe eine Kombination aus Push- und Pull-Faktoren, die einige dieser Unternehmen dazu brächten, einen Teil ihrer Produktion von Europa in die Vereinigten Staaten zu verlagern.
Beispiele BASF, Yara
Auf der Push-Seite der Dinge ständen offensichtlich Gaspreise. Unternehmen wie deutsche Chemieriese BASF oder das norwegische Unternehmen Yara International. Beide hätten die Ammoniakproduktion in einigen ihrer europäischen Anlagen eingestellt, um Erdgaskosten zu sparen. In einigen Fällen seien die Erdgaskosten je nach Tag zehnmal so hoch wie vor ein oder zwei Jahren. Es bestehe wirklich Unsicherheit unter vielen dieser Unternehmen, wie lange sie noch überleben könnten.
Auf der anderen Seite der Dinge gebe es die Zugseite der Gleichung. Washington habe einmalige Anreize für Unternehmen vorgestellt, in grüne Energieprojekte zu investieren. Viele dieser Unternehmen, die auf Erdgas angewiesen sind, hofften schließlich, diese Energie durch Wasserstoff oder andere Arten von erneuerbaren Energiequellen zu ersetzen. Diese Kombination aus Push- und Pull-Faktoren kämen „zufällig zu einer Zeit“, so die WSJ-Journalisten die das Kräfteverhältnis zwischen der europäischen und der US-amerikanischen Industrie neu gestalten könnte.
Viele der Führungskräfte, mit denen Uberti gesprochen habe, sahen im Wesentlichen ein zweijähriges Zeitfenster, in dem sich die Perspektive verändern könnte. Sie hofften, dass die Politiker eine Lösung finden, um entweder eine breiter angelegte Erdgasquelle für Europa zu schaffen oder die Industrie dazu anzuregen, einige dieser Investitionen in erneuerbare Energien in einer höheren Geschwindigkeit zu tätigen als bisher. Uberti rechnet mit besserer Wirtschaftlichkeit für Unternehmen im Bereich dieser umweltfreundlicheren Energiearten nach zwei, vielleicht drei bis vier Jahren erhöhter Erdgaspreise. Voraussetzung dafür sei, dass einige der Investitionen in grüne Energie in den Vereinigten Staaten sich entsprechend positiv ausgewirkt haben würden – „über verschiedene Arten von Unternehmen hinweg und potenziell dauerhaft“, so Uberti.
Washington lockt – Berlin hört mit
Wie das „Handelsblatt“ gehört haben will, soll man in Berlin die Warnsignale aus USA vernommen haben – und sei „alarmiert“. Man wolle gegensteuern. Deutsche Unternehmen bauten ihre Standorte in den USA immer weiter aus. Washington locke deutsche Firmen mit billiger Energie und niedrigen Steuern. Zahlreiche US-Bundesstaaten böten neben billiger Energie auch Steuererleichterungen und andere Hilfen an. Das gelte vor allem für die Südstaaten.
„Wir hatten zuletzt in elf von 14 Quartalen die niedrigsten Energiekosten der USA“, sagt etwa Kevin Stitt, Gouverneur von Oklahoma, im Gespräch mit dem Handelsblatt. Ähnlich argumentiert laut dem Blatt der Wirtschaftsminister von Georgia, Pat Wilson: „Unsere Energiekosten sind niedrig und die Netze stabil.“ Zudem sei der Kohleausstieg beschlossene Sache. Bis 2024 nehme sein Bundesstaat zwei neue Kernkraftwerke ans Netz. „Unternehmen, die nach Georgia kommen, verringern ihren Klimafußabdruck“, sagt Wilson. Das Werben hat Erfolg: Zahlreiche deutsche Firmen planen den Auf- oder Ausbau ihrer US-Standorte, wie Handelsblatt-Recherchen zeigen. Zahlen aus wichtigen Staaten wie Virginia, Georgia und Oklahoma belegten das steigende Interesse.