19.03.2021

So bekommen Sie digitalen Stress in den Griff

Digitale Arbeit macht Stress und ist damit ein psychischer Belastungsfaktor. Aber warum eigentlich? Und wodurch genau entsteht digitaler Stress? Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik sind dieser Frage nachgegangen und haben im Rahmen einer aktuellen Studie 5.000 Beschäftigte befragt. Dabei wurde erfasst, wie sich das Belastungs- und Beanspruchungsprofil durch neue digitale Technologien verändert hat und wie dadurch Stressfaktoren entstehen oder verstärkt werden können.

Mitarbeitern zeigt einer Kollegin einen Lösungsweg am Bildschirm auf.

Definition Stress

Nach DIN EN ISO 10075-1:2018-01 ist Stress im Wesentlichen ein Zustand verstärkter psychischer oder physischer Aktivierung, die aus Belastungen entsteht, denen eine Person dauerhaft nicht gerecht werden kann. Digitaler Stress kann durch die verstärkte Nutzung von neuer Informations- und Kommunikationstechnologie und der damit verbundenen Änderung der Arbeitswelt entstehen. Daraus resultieren Fehlbeanspruchungen und letztlich Gesundheitsschäden.

Die Fraunhofer-Studie „Belastungsfaktoren der digitalen Arbeit“ hat insgesamt 12 wesentliche Belastungsfaktoren ermittelt, die auf die Beschäftigten einwirken können:

1. Transparenz gegen das Gefühl der Leistungsüberwachung

Neben dem Gefühl einer konstanten Überwachung entsteht digitaler Stress zusätzlich durch das Gefühl, bewertet und mit Kollegen verglichen zu werden. Die Forscher schlagen als Lösungsansatz vor, Beschäftigten transparent darüber zu informieren, welche Daten konkret erhoben und wie sie verwendet werden. Auch die Einbeziehung des Betriebsrats kann hier vertrauen schaffen, z.B. im Rahmen einer Betriebsvereinbarung.

2. Wer mitentscheidet, fühlt sich nicht als gläserne Person

Die Vermutung von Beschäftigten, dass digitale Technologien und Medien dauerhaft die Privatsphäre verletzen, führt häufig Erschöpfung und emotionale Irritation. Als Gegenmittel empfehlen die Forscher ein Datenschutzkonzept, das den Beschäftigten die Möglichkeit bietet, über die Erhebung und Verwendung von Daten mitzuentscheiden.

3. Ausgereifte Technologie für mehr Zuverlässigkeit

Wer ständig damit rechnen muss, dass Systeme gar nicht, falsch oder instabil arbeiten, empfindet dies als Stress. Zusätzlich verbindet sich damit das Gefühl, nicht abschalten zu können.

Hier hilft nach Ansicht der Forscher, die Beschäftigten nicht unausgereiften Technologien auszusetzen. Kinderkrankheiten sollen von vornherein lieber vermieden statt im laufenden Betrieb bereinigt werden. Zur Entspannung trägt es auch bei, wenn Mitarbeiter wissen, ihre Daten sind sicher. Deshalb ist es wichtig, Backups zu erstellen und sicher darauf zugreifen zu können.

4. Mit dem Handyturm gegen häufige Unterbrechungen

Viele digitale Systeme versuchen, Nutzer zeitnah und offensiv zu informieren. Im Ergebnis führt dies zu einer Vielzahl an spontanen Benachrichtigungen und damit zu Unterbrechungen der Arbeitstätigkeit. Konzentriertes Arbeiten scheint oft nicht möglich. Auch dadurch kann digitaler Stress entstehen – und in Folge Erschöpfungszustände und eine geringere Arbeitsfähigkeit.

Hier obliegt es der IT-Abteilung, aber auch den Führungskräften, das Tempo der automatisierten Benachrichtigungen zu drosseln. In einem Szenario schlagen die Forscher für analoge Meetings einen „Handyturm“ vor: Wenn alle um den Konferenztisch herumsitzen, wird, bevor es losgeht, mit den Mobiltelefonen ein Turm gebaut. Erst nach der Besprechung wird der Handyturm aufgelöst. Dadurch können Teilnehmer des Meetings vermeiden, dass sie ständig auf eingehende Messenger-Nachrichten und E-Mails reagieren.

5. Selbstwirksamkeit gegen Überflutung

Immer schneller und immer mehr arbeiten zu müssen: Dieses Gefühl haben viele Beschäftigte, die mit digitalen Technologien und Medien umgehen. Digitale „Überflutung“ bringt häufig Unzufriedenheit und Demotivation mit sich sowie Erschöpfung durch das Gefühl ständiger Überforderung.

Die Fraunhofer-Forscher schlagen eine Stärkung der Selbstwirksamkeit vor. Selbstwirksamkeit bedeutet: das Zutrauen, dass das eigene aktive Handeln posi­tive Veränderungen hervorrufen kann. Beispielsweise könnten Beschäftigte in einem aktiven Erreichbarkeitsmanagement geschult werden. Um Selbstwirksamkeit praktisch umzusetzen, wäre es denkbar, dass Vorgesetzte ihre Mitarbeiter nicht dazu auffordern, neue Aufgaben zu übernehmen, sondern dass Beschäftigte neue Aufgaben abholen bzw. anfordern.

6. Mehr Sicherheit mit angepasstem Release- und Changemanagement

Beschäftigte sind verunsichert, wenn ihre Kompetenzen ständig durch neue Technologien und Medien infrage gestellt werden. Dies kann z.B. ein Gefühl verursachen, den Anforderungen nicht mehr oder nur durch immer größere Energieleistungen gewachsen zu sein.

Die Forscher schlagen hier ein angepasstes Release- und Changemanagement vor, das den Beschäftigten ausreichend Einarbeitungszeit gewährt. Neue Funktionen sollten mit einer angepassten Nutzerführung intuitiv erlernbar sein und ausprobiert werden können.

7. Die Gründe für Nichtverfügbarkeit unterweisen

Einen kaum bekannten Belastungsfaktor haben die Fraunhofer-Forscher als wichtig ausgemacht: Technologien und Prozesse, die nicht zur Verfügung stehen, die also möglich wären, aber untersagt sind. Dieses Gefühl der willkürlichen und nicht notwendigen Begrenzung kann zu emotionalen irritieren und unzufriedener mit der Arbeit machen.

Eine offene Kommunikation darüber, warum zwar etwas möglich, aber nicht im betrieblichen Interesse ist, könnte hier helfen. Eine weitere Möglichkeit der Abhilfe wäre die einfache Bitte, dass Mitarbeiter solche Nichtverfügbarkeiten melden; unter Umständen sind diese einfach nicht bekannt, oder ein Unternehmen kann Alternativen zulassen.

8. Rollenklarheit: Wer bin ich und warum?

Die Digitalisierung an den Arbeitsplätzen verändert vorher klar verteilte Rollen und deren Inhalte. Ist man nun als Anwender von digitaler Technologie oder als Fachperson für bestimmte Arbeitsinhalte gefragt? In vielen Fällen ist beides der Fall, doch meist nicht ausdrücklich benannt.

Die Forscher empfehlen ein leistungsfähiges Helpdesk mit Experten, sodass sich die Beschäftigten auf ihre Arbeitsinhalte konzentrieren und bei Problemen schnell Hilfe erhalten können.

9. Komplexität reduzieren und schulen

Mit dem Einzug digitaler Technologien und Medien ist die Komplexität von Problemen und deren Lösungen meist um ein Vielfaches angestiegen. In der Folge kann das Gefühl entstehen, nicht mehr genug zu wissen oder kompetent genug zu sein.

Eine mögliche Lösung sehen die Forscher darin, das Unternehmen das Technologieportfolio an den Arbeitsplätzen begrenzen und damit Prozesse vereinfachen. Dies kann etwa heißen, dass es für einen grundlegenden Vorgang (z.B. Einkauf) nur noch eine Software mit klar gekennzeichneten Funktionen gibt. Wo Komplexität nicht reduziert werden kann, soll ausführlich geschult und informiert werden.

10. Kommunikationskultur gegen Präsentismus

Die Erwartungen an Erreichbarkeit und Reaktionsschnelligkeit sind mit dem Einzug der digitalen Technologien und Medien meist gestiegen. Das Gefühl, ständig verfügbar und reaktionsbereit sein zu müssen, belastet viele Beschäftigte. Hier hilft eine etablierte Kommunikationskultur (z.B. keine Kontaktaufnahme während definierter Pausenzeiten) und die aktive Erwartung an die Beschäftigten, in Pausen, am Feierabend oder im Urlaub nicht tätig zu sein.

11. Digitale Paten gegen Angst vor dem Jobverlust

Wie sicher ist der Arbeitsplatz angesichts vermehrt eingesetzter digitaler Technologien und Medien noch? Bin ich den Veränderungen gewachsen oder werde ich langfristig den Arbeitsplatz verlieren? Eine hohe Arbeitsplatzunsicherheit führt zu geringerer Arbeitszufriedenheit. Neben häufigen Schulungen schlagen die Fraunhofer-Forscher digitale Paten vor, die für Beschäftigte bei Problemen aller Art ansprechbar sind.

12. Lob gegen Unsichtbarkeit

Tätigkeiten werden in einem digitalen Umfeld immer „unsichtbarer“, d.h., erledigte Arbeitsaufgaben werden nicht mehr als solche wahrgenommen. Dadurch entsteht das Gefühl, keine Arbeitsfortschritte zu machen und keine Erfolge zu erzielen. Digitaler Stress kann dann schnell in chronische Erschöpfung umschlagen.

Die Fraunhofer-Forscher schlagen eine Kultur des Lobs und der Wertschätzung als Gegenmittel vor. Hilfreich finden sie auch Schulungen, mit denen Beschäftigte den Überblick über ihre Leistungen behalten, z.B. To-do-Listen.

Zusammenfassung: Alle Belastungsfaktoren zu digitalem Stress im Griff?

Die Infografik fasst noch einmal die wichtigsten Belastungsfaktoren kurz zusammen (für eine hochaufgelöste Version, klicken Sie bitte hier: Infografik_GesundDigitalArbeiten )

Infografik gesund digital arbeiten

© Projekt Prävention für sicheres und gesundes Arbeiten mit digitalen Technologien – PräDiTec

  • Leistungsüberwachung
  • gläserne Person
  • Unzuverlässigkeit
  • Unterbrechungen
  • Überflutung
  • Verunsicherung
  • Nichtverfügbarkeit
  • Unklarheit der Rolle
  • Komplexität
  • Omni- und Dauerpräsenz
  • Jobunsicherheit
  • mangelnde Erfolgserlebnisse

Mehr Informationen zu dem Projekt und den Ergebnissen der Studie finden Sie auf der Webseite www.gesund-digital-arbeiten.de.

 

So kommen Sie weiter

Autor*in: Martin Buttenmüller